The Girl with the Bracelet
© Charades

The Girl with a Bracelet

Kritik

La fille au bracelet The Girl with the Bracelet
„The Girl with a Bracelet“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Der Schock ist groß, als eines Tages die Polizei vor Familie Bataille steht. Der Vorwurf: Lise (Melissa Guers) soll ihre beste Freundin Flora ermordet haben. Zwei Jahre sind seither vergangen, welche die Jugendliche mit einer Fußfessel zu Hause verbringen musste und die auch für ihren Vater Bruno (Roschdy Zem) und ihre Mutter Céline (Chiara Mastroianni) die Hölle waren. Nun endlich soll Klarheit herrschen, was damals wirklich geschehen ist, der Prozess hat begonnen. Das bedeutet nicht nur für Lise, dass sie sich den Fragen der Staatsanwältin (Anaïs Demoustier) stellen muss. Auch für den Rest der Familie stellt der Prozess eine große Belastung dar, müssen sie sich dabei selbst fragen, ob sie Lise so gut kannten, wie sie dachten …

Bald 13 Jahre ist es her, dass die britische Austauschstudentin Meredith Kercher in Italien ermordet wurde, ein Verbrechen, das damals Amanda Knox zur Last gelegt wurde. Und auch wenn diese Jahre später freigesprochen wurde, nach zwei zwischenzeitlichen Verurteilungen: Die Fragen blieben. Das ist für Filmemacher natürlich eine dankbare Vorlage, sowohl im dokumentarischen wie auch fiktionalen Bereich. 2018 ließ sich der Argentinier Gonzalo Tobal von der Geschichte inspirieren und erzählte in Verurteilt – Jeder hat etwas zu verbergen von einer Jugendlichen, die des Mordes an ihrer besten Freundin angeklagt wird. Ein Jahr drauf erschien mit The Girl with a Bracelet eine lose französische Adaption dieses Filmes, die ein ähnliches Szenario verwendet, dabei jedoch andere Akzente setzt.

Das unerklärliche Verbrechen
Beiden Filmen gemeinsam ist, dass sie sich weniger für das Verbrechen an sich interessieren. Thematisiert wird dieses natürlich andauernd, vor Gericht sowieso, auch außerhalb gibt es kein Entkommen vor dem Thema. Anderthalb Stunden lang darf das Publikum, sowohl innerhalb von The Girl with a Bracelet wie außerhalb, Beweise und Indizien sehen, sich Vermutungen und Leugnungen anhören, bei dem Versuch, irgendwie der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Doch was die Wahrheit ist, das muss jeder selbst für sich entscheiden. Der Film ist kein klassischer Krimi, bei dem am Ende ein brillanter Detektiv alle Puzzleteile so zusammengefügt hat, dass jeder weiß, was Sache ist.

Regisseur und Drehbuchautor Stéphane Demoustier, Bruder der Nebendarstellerin Anaïs, verzichtet aber ebenfalls darauf, die Medien in den Fall miteinzubeziehen, so wie es Verurteilt getan hat. War der Prozess gegen Knox weltweit Stoff für die News, was sich in dem argentinischen Film niederschlug, der die Sensationsgier der Menschen anprangerte, da bleibt in The Girl with a Bracelet die Öffentlichkeit mehr oder weniger außen vor. Das Drama ist dadurch deutlich intimer als das Vorbild, konzentriert sich stärker auf die Figuren. Und doch bleibt es auf eine irritierende Weise auf Distanz, lässt einen nie nah genug an Lise heran, um sie wirklich ganz durchschauen zu können.

Ein Mensch von außen betrachtet
Der Film, der auf dem Locarno Film Festival 2019 Premiere hatte, befasst sich einerseits mit den Auswirkungen des Verdachtes auf die Familie, die daran zunehmend zerbricht. Vor allem ist er aber ein Spiel mit den Erwartungen. Unbeweglich sitzt Lise in dem Gerichtssaal, verzieht keine Miene, sagt kaum ein Wort. Das frustriert nicht nur die Eltern, die sie zu mehr Emotionalität überreden wollen, um so ihre Chancen bei der Jury zu steigern. Auch das Gericht selbst, die Anwältinnen, verzweifelt daran, wie sich hier jemand konsequent jeglicher Vereinnahmung verweigert. Sie verhält sich auf eine Weise, die keine eindeutigen Rückschlüsse zulässt. Ist sie komplett gefühllos bei der Sache? Lässt sie der Tod kalt? Kann sie sich nur nicht nach außen öffnen? Und überhaupt: Wer ist Lise überhaupt?

The Girl with a Bracelet ist damit in erster Linie eine Art Porträt, das sich von außen zusammensetzt, aus Zeugenaussagen Dritter – Familie wie Freunde –, die nicht zusammenpassen und doch zusammenpassen müssen. Im Sinne der Wahrheitsfindung ist das natürlich mindestens eine Herausforderung, wenn nicht gar eine Unmöglichkeit: Bis zum Schluss bleibt offen, ob die Jugendliche Opfer oder Täterin ist, völlig unbedarft oder eine geschickte Manipulatorin. Der Film spielt dadurch nicht nur mit den Widersprüchen zwischen äußerer Erscheinung und dem tatsächlichen Inneren. Er hinterfragt zugleich, ob man eine andere Person überhaupt je völlig erkennen und erfassen kann oder ob sie nicht immer nur aus Bruchstücken besteht, die andere aufeinanderstapeln, geformt nach eigenen Empfindungen und Erwartungen, wie das Gegenüber zu sein hat.

Credits

OT: „La fille au bracelet“
Land: Frankreich
Jahr: 2019
Regie: Stéphane Demoustier
Drehbuch: Stéphane Demoustier
Musik: Carla Pallone
Kamera: Sylvain Verdet
Besetzung: Melissa Guers, Roschdy Zem, Chiara Mastroianni, Annie Mercier, Anaïs Demoustier, Paul Aïssaoui-Cuvelier

Bilder

Trailer

Filmpreise

Preis Jahr Kategorie Ergebnis
César 2021 Beste Nachwuchsdarstellerin Mélissa Guers Nominierung
Bestes adaptiertes Drehbuch Stéphane Demoustier Sieg
Prix Lumières 2021 Bester Film Nominierung
Beste Nachwuchsdarstellerin Mélissa Guers Nominierung
Bestes Drehbuch Stéphane Demoustier Sieg

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„The Girl with the Bracelet“ beginnt als Krimi, wenn eine Jugendliche des Mordes an ihrer besten Freundin beschuldigt wird. Doch die Wahrheitssuche des Films befasst sich nur zum Teil mit der Lösung des Falls an sich, sondern stellt vielmehr Fragen zur Identität und ob man eine solche von außen erfassen kann.
8
von 10