Vor rund 40 Jahren, im Vorfeld der Revolution, die letztlich das Shah-Regime stürzte im Iran, legte eine Gruppe von Anti-Shah Protestlern in einem Kino, dem Cinema Rex in Abadan ein Feuer. Das Ereignis, welches als ein Akt des Protests gegen westliche Werte gelten sollte, wurde zu einer menschlichen Tragödie, in deren Folge viele Menschen, die den Kinosaal nicht mehr verlassen konnten, in den Flammen starben oder am Rauch erstickten. Nun, im Jahre 2020 will eine ebenfalls radikal eingestellte Gruppe von Protestlern das Ereignis wiederholen und haben sich bereits ein Kino ausgesucht, dessen Saal bereits komplett ausgebucht ist und dessen Belegschaft, darunter Elham (Razieh Mansouri), die eigentlich nur Kinoplakate vorbeibringen wollte. Unter der Gruppe, die bereits seit mehreren Monaten den Anschlag plant, befindet sich unter anderem Faraj (Mohammad Sareban), ein Medikamentenabhängiger, der versucht clean zu werden und Probleme hat, sich in der Gruppe zu integrieren. Parallel spielt sich auf der Leinwand die Handlung des Films ab, eines Streifens namens Careless Crime. In diesem entdeckt eine Gruppe Soldaten durch Zufall, während sie in der Wüste gestrandet auf die Lieferung eines Ersatzreifens für ihren Jeep warten, eine alte Rakete, die aus einem vergangenen Krieg zu stammen scheint und nicht explodierte. Da nicht davon auszugehen ist, dass sie noch abgeholt werden oder jemand ihren Jeep repariert, beschließen die Männer kurzerhand, mit einem Mann mitzufahren, der einen Generator zu einer Gruppe junger Leute bringen will, die in den Bergen für sich und vorbeikommende Reisende eine Kinovorstellung vorbereitet.
Film und Geschichte
In seinem insgesamt vierten Spielfilm Careless Crime, der im diesjährigen Orizzonti-Wettbewerb bei den Filmfestspielen in Venedig läuft, befasst sich der iranische Regisseur Shahram Mokri mit der Beziehung von Geschichte und Film, inwiefern dieser Ereignisse der Vergangenheit nacherzählen muss oder diese verändern kann. Ausgangspunkt bildet der Anschlag auf das Cinema Rex, bei dem 478 Menschen ihr Leben verloren und der nun in der Neuzeit nachgeahmt werden soll.
Weiter heißt es im Statement Mokris, dass für ihn Careless Crime keine Erzählung über dieses Ereignis oder die Hintergründe sei, sondern eine Geschichte, in der es vor allem über das Kino an sich geht. Hinter diesen knappen Ausführungen zu dem Werk verbirgt sich ein hochinteressantes narratives Konzept, bei dem es weniger um eine lineare Abfolge von Ereignissen geht oder um eine bloße Nacherzählung, sondern um den Versuch mit den Mitteln des Films das Ereignis zu erfassen, für was es steht und wie man mit ihm umgehen kann.
Die Geschichte von Careless Crime ergibt sich aus einem Flickenteppich an Kleinsterzählungen, teils aus Banalitäten oder Zufällen, wenn sich beispielsweise vor dem Kino Bekannte begegnen. Immer wieder bedienen sich Mokri und Nasim Ahamdpour, die das Drehbuch zum Film schrieben, Versatzstücken, wie man sie aus dem Theater kennt, beispielsweise dem Vorspiel im Kino, in dem sich der Inhaber des Kinos mit zwei seiner Angestellten über die Bestuhlung des Saals und eventuelle Sicherheitsbedenken streitet. Anhand der Erklärungen der Dialogpartner merkt man schnell, welchen Prinzipien sie folgen, vom Geschäftssinn bis hin zum sturen Gehorchen, was zusammengenommen – man ahnt es bereist in diesen ersten Minuten – eine unheilverkündende Kombination ergibt.
Doppelte Narrative
Durchbrochen wird dieser erste Erzählstrang durch den teils linearen, aber sehr fragmentarischen über die drei Soldaten in der Wüste, die ebenfalls der Vorbereitung auf eine Kinovorstellung beiwohnen. Auch hier wechselt Mokri zwischen Versatzstücken des Dramas hin zu einer Art absurden Komödie, bei der sich die Soldaten gegenseitig ergänzen oder sich ganze Dialoge, wahrscheinlich um die Wartezeit zu füllen, wiederholen. Angefangen bei der Unachtsamkeit eine Rakete einfach in der Landschaft liegenzulassen, ergibt sich ebenfalls eine ganze Reihe von Unvorsichtigkeiten und Dummheiten, die auf eine Katastrophe hinauslaufen.
Stets wechselt Careless Crime zwischen diesen beiden Narrativen, wechselt die Figuren oder die Perspektive, aus der erzählt wird. Der Zustand der Sorglosigkeit und der Unachtsamkeit spiegelt ein gesellschaftliches Problem, wie es scheint, ein Denken, welches selten zum Perspektivwechsel bereit ist, Mokris Film aber erzwingt.
OT: „Jenayat-e bi deghat“
Land: Iran
Jahr: 2020
Regie: Shahram Mokri
Drehbuch: Shahram Mokri, Nasim Ahamdpour
Musik: Ehsam Sedigh
Kamera: Alireza Barazandeh
Besetzung: Babak Karimi, Razieh Mansouri, Abolfazl Kahani, Mohammad Sareban, Adel Yaraghi, Mahmoud Behraznia, Behzad Dorani
Welche Relevanz hat der Anschlag von damals auf den heutigen Iran? Und wie war die Zusammenarbeit mit den Schauspielern? Diese und weitere Fragen haben wir Regisseur Shahram Mokri in unserem Interview gestellt.
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