Die Perineum-Technik

JH ist ein bekannter Künstler, der aktuell an einer neuen Videoausstellung arbeitet, die ihn wie auch sein Team sehr viel Stress bereitet. Doch neuerdings ist es nicht nur seine Kunst, die JH beschäftigt, sondern auch seine virtuellen Sex-Treffen mit Sarah, die er über die Dating-App OkCupid kennenlernte. Was zunächst nur reiner Zeitvertreib war, ist für JH schon lange mehr und so will er sich mit Sarah einmal in der echten Welt treffen, was sie aber ablehnt. Nach vielen hartnäckigen Versuchen lässt sich Sarah dennoch auf ein Treffen ein, doch es soll kein normales sein, denn JH trifft sie auf einer Swinger-Party. Etwas enttäuscht von seiner Manneskraft erzählt sie ihm von der sogenannten Perineum-Technik, mit deren Hilfe der Mann eine Ejakulation hinauszögern kann, aber dennoch einen Orgasmus erfahren kann. Als Sarah dann für einige Monate aus seinem Leben verschwindet, kann sich JH kaum auf seine Arbeit konzentrieren, die ihn zunehmend frustriert. Da Sarah ihm ein echtes Treffen versprochen hatte, bevor sie ihn verließ, unter der Bedingung, er würde die Technik trainieren, ist er zudem zerfressen von Liebe und Lust nach dem Objekt seiner Begierde. JH fühlt, wie er in ein tiefes Loch der Begierde fällt.

Die Sehnsucht nach Echtheit
In ihrer neuesten Zusammenarbeit Die Perineum-Technik befasst sich das Autorengespann Florent Ruppert und Jérôme Mulot mit den Themen Liebe und Obsession im Internetzeitalter. Anhand der Geschichte des Künstlers JH und dessen Beziehung zu Sarah verhandeln die Autoren den Zusammenhang zwischen ständiger Verfügbarkeit und Erreichbarkeit in einer Zeit, in der alle Menschen scheinbar ständig online sind, mit dem Konzept der Begierde, die sich irgendwann nicht mehr mit der virtuellen Welt zufriedengibt.

Die Idee der virtuellen Welt als einer Parallelwelt oder gar einer bevorzugten Alternative zu der echten ist wahrlich nicht neu. Auch in Rupperts und Melots Geschichte ist die virtuelle Welt ein klarer Gegenentwurf zu der Wirklichkeit, die sich durch ihre Restriktionen und Regeln definiert, die der Wunscherfüllung im Wege stehen. In dem Moment, in dem man JH begegnet als Leser, ist dieser gefangen in dieser Welt und will sich nicht mehr von ihr lösen, kann sie ihm doch echt Lust verschaffen in einer Wirklichkeit, die dies nicht mehr ermöglicht. Sein eigener Terminplan, der von Deadlines und Verpflichtungen erfüllt ist, steht im klaren Gegensatz zu der virtuellen Zeit, die anders ist und wahrgenommen wird. Passenderweise fragt ihn sein Cutter verwundert, warum JH auf einmal so lange braucht, um in seine Wohnung zu kommen, ohne zu wissen, dass dieser noch bis eben sich in Sarahs Profil auf OkCupid hineinsteigerte.

Dennoch ist der Sex und die Lust gebunden an die echte Welt, was zunehmend zu einem Problem wird. Die selbstauferlegte Enthaltsamkeit JHs, als Voraussetzung für das nächste Treffen mit Sarah, wird ironischerweise gleichsam eine Verweigerung eines wichtigen Teils des Erlebnisses, was wiederum das Verlangen nach dem echten, authentischen Sex steigert.

„Wir stürzen ab.“
Für diese komplexen Gedanken bemühen Ruppert und Melot verschiedene Bilder, welche den Absturz der Figuren in ihr eigenes Verlangen zeigen. Ein schier nicht enden wollender Sturz in die Leere wird ein Moment der Losgelöstheit, der absoluten Lust und ein Vergessen der Welt außerhalb des Monitors oder des Handybildschirms. Beide Welten gehen ineinander über, zeigen das wachsende Verlangen von JH nach dem Körper des anderen Menschen und letztlich nach irgendeinem weiblichen Körper. Der Satz „Wir stürzen ab“, gemeint als Zusammenfassung jenes Zustands während des virtuellen Sex, wird zu einer umfassenderen Metapher für jenen Absturz, der sich dann in der echten Welt vollzieht.