Wirklich recht ist es der jungen Frau (Jessie Buckley) ja nicht, dass sie mit ihrem Freund Jack (Jesse Plemons) zu dessen Eltern fährt. Denn eigentlich denkt sie darüber nach, die Beziehung zu beenden. Sicher, Jack ist nett, einfühlsam, ein guter Zuhörer und interessiert, alles, was man sich von seinem Freund wünschen könnte. Aber irgendetwas fehlt. Als die beiden endlich bei seiner Mutter (Toni Collette) und seinem Vater (David Thewlis) ankommen, ist die Atmosphäre zwar anfangs ausgelassen. Doch der immer stärker werdende Schneesturm beunruhigt sie. Und auch sonst fühlt sie sich zunehmend unwohl in dem Haus voller Erinnerungen …
Das erste Mal den Eltern des neuen Freundes oder der neuen Freundin zu begegnen, das ist immer ein besonderes Ereignis, der nächste Schritt, wie es an einer Stelle in dem Netflix-Film I’m Thinking of Ending Things heißt. Ein Ereignis, das mit einer großen Freude, aber auch Unbehagen, wenn nicht gar Angst einhergehen kann. Wie werden sie sein? Wie soll ich mich verhalten? Was werden sie wohl von mir denken? Schon unter normalen Umständen kann dies eine sehr spannende Situation sein. Und dass hier nur wenig normal sein wird, das konnte man sich vorher schon denken, schließlich handelt es sich um einen Film von Charlie Kaufman. Und wenn der einen neuen Titel zeigt, dann weiß man schon vorher, dass es anders wird, man am Ende sich vielem nicht mehr sicher sein kann, was man eigentlich für etabliert hielt.
Etwas stimmt hier nicht
Das gilt auch für seine Adaption des Romans The Ending – Du wirst dich fürchten. Und du wirst nicht wissen, warum von Iain Reid. Es gilt hier sogar ganz besonders. Schon bei der sehr langen Einleitungsszene, die das Paar während seiner Fahrt durch das schneebedeckte, nächtliche Nirgendwo zeigt, lässt einen immer wieder etwas misstrauisch werden. Vermeintlich geht es in I’m Thinking of Ending Things – der Titel kündigt es bereits an – um das nahende Ende einer Beziehung, die sich nie wirklich richtig angefühlt hat. In langen inneren Monologen der jungen Frau seziert sie ihre Gemeinsamkeit und das Fehlen davon, denkt über Beziehungen im Allgemeinen nach, über das Zwischenmenschliche und die Grenzen hiervon. Schon früh geht das mit einer zwangsläufig traurigen Atmosphäre einher, gerade auch weil Jack, der nette, einfühlsame, interessierte Jack, nicht einbezogen wird.
Auch später wird der Film diese Traurigkeit aufnehmen. Zumindest im Mittelteil aber dominiert erst einmal eine Atmosphäre des Rätselhaften. Während die Fahrt bei allen kleinen Irritationen zumindest noch plausibel war, verschiebt sich im Haus der Eltern alles. Vieles, was zuvor eindeutig erschien, ist es nicht mehr. Geschichten werden kontinuierlich umgeschrieben, Figuren sind mal so, dann wieder anders. Einige der Änderungen sind subtil, bei anderen stößt einen Charlie Kaufman recht direkt drauf. Man wartet nur darauf, dass in dem seltsamen Haus, in dem nichts wirklich von Bestand ist, irgendwelche übernatürlichen Erscheinungen auftreten oder man einen Weg aus diesem Labyrinth findet, welches ein wenig an Twilight Zone erinnert.
Das Herz des Rätsels
Doch diese Genreanleihen, irgendwo zwischen Mystery, Thriller und Horror, sind nur ein Mittel zum Zweck. Denn im Herzen ist I’m Thinking of Ending Things ein Drama. Kaufman hatte schon immer ein unvergleichbares Talent dafür, egal ob nun an Autor (Vergiss mein nicht) oder als Regisseur (Anomalisa), sonderbare Situationen oder auch Inszenierungen für zutiefst menschliche und existenzielle Themen zu nutzen. Sein neuester Film ist da keine Ausnahme. Die seltsamen Szenen im Film, die von komisch bis unheimlich reichen, dienen letztendlich dazu, eine tragische Geschichte zu erzählen. Die vielen Puzzleteile, die zunächst keinen Sinn ergeben und auch nach dem Ende nicht alle einen festen Platz haben, ergeben doch ein Bild, das bewegt und erschreckt. Zeigen ein Leben der Enttäuschungen und verpassten Chancen, der Entfremdung und Einsamkeit, zeigen auch Identität als ein Konstrukt aus Erwartungen und Vorstellungen.
Dafür braucht es aber einerseits Geduld: Kaufman kostest die 134 Minuten aus, lässt sich viel Zeit und wird viele mit seiner langsamen Erzählung überfordern. Und es braucht natürlich die Bereitschaft, über das Gesehene nachzudenken, zu diskutieren, vielleicht den Film mehrfach anzuschauen, um die versteckten Hinweise zu finden. I’m Thinking of Ending Things ist kein Film, der Gefühle direkt vermittelt, sondern dies über Umwege tut, auf einer mit viel Liebe zum Detail erschaffenen Meta-Ebene. Das Ergebnis ist einer der interessantesten, nachdenklichsten und besten Filme, die 2020 zu bieten hat. Ein Film, der auch audiovisuell fantastisch ist und von einem herausragenden Ensemble getragen wird – besonders natürlich Jesse Plemons (Game Night) und Jessie Buckley (Wild Rose). Aber es ist auch ein Film, mit dem viele nichts werden anfangen können, der ihnen zu umständlich, zu träge, zu seltsam sein wird. Vielleicht auch zu düster: Das Drama wagt sich derart tief in die Psyche vor, dass einem angst und bange werden kann bei dem Versuch, wieder aus dieser herauszukommen.
OT: „I’m Thinking of Ending Things“
Land: USA
Jahr: 2020
Regie: Charlie Kaufman
Drehbuch: Charlie Kaufman
Vorlage: Iain Reid
Musik: Jay Wadley
Kamera: Łukasz Żal
Besetzung: Jesse Plemons, Jessie Buckley, Toni Collette, David Thewlis
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