Carl Gustav Jung, der Mitbegründer der analytischen Psychologie, findet heutzutage wohl in jedem Werk über Psychologieliteratur einen festen Platz. Und wenn obgleich seine Theorien in der modernen Psychologie als veraltetes Auslaufmodell gelten, so stellt sich dennoch die Frage, was es mit den Jungschen Erkenntnissen ganz allgemein auf sich hat. Womit genau beschäftigte sich Jung und sind diese Erkenntnisse heutzutage überhaupt noch relevant? Dies sind Fragen, die den Dokumentarfilmer Rüdiger Sünner dazu bewegt haben, sich mit dem Schweizer Psychologen einmal näher zu befassen. In seinem Werk Nachtmeerfahrten – Eine Reise in die Psychologie von C. G. Jung, geht er dabei den elementaren Ansätzen der Jungschen Philosophie nach und fragt darüber hinaus, ob diese in unserer modernen und rationalen Welt nicht doch ein wenig in Vergessenheit geraten.
Mythologisches Kino
In unserer rationalisierten Welt hat es den Anschein, als würden Themen wie Mythologie, das Unterbewusste, Traumdeutung oder beispielsweise Sagen und Legenden (Archetypen nach Jung) an Bedeutung verlieren. Nach Ansicht von Sünner, der mit seinem Werk nicht nur die Psychologie nach Jung knapp umreißt, sondern diese darüber hinaus in gesellschaftliche und kulturelle Kontexte setzt, kristallisiert sich jedoch genau das Gegenteil heraus. Allein beim Blick auf die Filmlandschaft wird klar: Imagination und Traum, Mächte des Lichtes und der Dunkelheit sowie Mystik und Fantasy sind elementare Bestandteile im Kino, besonders in der heutigen Zeit. Egal ob Harry Potter, Herr der Ringe oder Star Wars, diese Filme packen uns, vermutlich auch daher, weil nach Sünner hier Urzustände in uns geweckt werden. Der Kampf durch die Nacht, verbunden mit der unterschiedlichsten Konfrontationen, seien es mystische Wesen, gefährliche Situationen oder der eigene Schatten, liefern in der Hinsicht dem Bezug zum Titel Nachtmeerfahrt, einem Begriff aus der Mythologie über den Sonnenlauf und der Überwindung der Nacht als Repräsentant für das Traumhafte und Unterbewusste.
Jung damals und heute
Ein Blick Jahrhunderte in die Vergangenheit, arbeitet Sünner die unterschiedlichen Stationen im Leben von Jung auf. Die mitunter schwierigen Beziehungen zum Christentum, zu den Nationalsozialisten und anderen Philosophen wie beispielsweise Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud verdeutlichen dabei die Schwere, mit der sich die Jungsche Psychologie schon damals konfrontiert sah. Sidenote: Im Spielfilm von David Cronenberg Eine dunkle Begierde wird das Leben von Jung (Michael Fassbender) und Freud (Viggo Mortensen) nachgezeichnet.
Im Interview mit Jung-Biografen, Psychologen und Forschern zeigt sich nicht wenig überraschend, dass Jungs Arbeiten auch heutzutage noch Menschen in ihren Bann zieht. Man denke da aus filmischer Sicht nur mal an David Lynch, der mit Filmen wie Mulholland Drive oder Lost Highway mit (alp-)traumhafter Ästhetik tief in die menschliche Seele vorzudringen versucht. Der Wunsch nach geheimnisvoller Unerklärbarkeit und unerwarteten Mysterien, wie es in der Doku an einer Stelle heißt, ist nach Sünner in der Moderne zwar vom Streben nach rationalen Erklärungen überdeckt, jedoch keineswegs tot. Die Möglichkeit, der Realität im Kino mal für zwei Stunden zu entkommen und tief in imaginäre Welten einzutauchen, zeigt in der Hinsicht recht anschaulich, dass mythologische oder spirituelle Themen wohl in jedem Zuschauer im Unterbewusstsein schlummern und die nur darauf warten einmal befreit zu werden. Sünner fragt damit am Ende zu Recht, ob es nicht doch klüger wäre, die Schatzkiste weiter zu öffnen und Jungsche Überlegungen als Ergänzung zur rationalen Welt zu betrachten. Und selbst wenn Jungs Arbeiten der faktischen Überprüfbarkeit nicht standhalten, vielleicht sind Träume nicht nur Schäume, wie es so schön heißt.
OT: „Nachtmeerfahrten“
Land: Deutschland
Jahr: 2011
Regisseur: Rüdiger Sünner
Drehbuch: Rüdiger Sünner
Kamera: Rüdiger Sünner
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