Als Aris (Aris Servetalis) in einem Bus zu sich kommt, weiß er nicht mehr, wohin er wollte, wo er wohnt, nicht einmal wer er ist. Damit ist er nicht alleine, eine eigenartige Pandemie greift um sich, in der die Menschen sämtliche Erinnerungen verlieren. Die Wissenschaft steht vor einem Rätsel, was diesen Gedächtnisverlust verursacht oder wie man ihn bekämpfen kann. Wer das Glück hat, kann mithilfe von Familie und Freunden langsam die Vergangenheit rekonstruieren. Aris hat dieses Glück nicht, da er von niemandem gekannt oder vermisst wird. Stattdessen nimmt er an einem Experiment teil, in dem er Aufgaben zu erfüllen hat und sich dabei mit der Kamera festhalten sollen. Das Ziel: Auf diese Weise sollen neue Erinnerungen geschaffen werden als Grundlage für eine neue Identität. Als er dabei Anna (Sofia Georgovasili) kennenlernt, kommt dieser Plan aber ziemlich durcheinander …
Pandemien gab es in Filmen natürlich schon, bevor wir dieses Jahr alle auf die eine oder andere Weise zum Opfer einer wurden. Contagion und Pandemie zeigten beispielsweise auf, wie ein tödliches Virus um sich greift. Von den ganzen Zombie-Produktionen, die uns unentwegt heimsuchen, ganz zu schweigen. Aber gleich, welche Gestalt diese Infektionen annehmen, es bedeutet fast immer das Ende der Welt. In Apples geht es auch um ein Ende, wenngleich dieses etwas anders ausfällt. Hier wird mal nicht Leib und Leben bedroht, sondern „nur“ das Gedächtnis, wenn immer mehr Menschen vergessen, woher sie kommen, was sie wollen und wer sie sind.
Der humorvolle Umgang mit der Leere
Das hört sich erst einmal ein bisschen harmlos an, geht aber doch ans Eingemachte. Wenn mir meine Erinnerungen genommen werden, meine Vergangenheit – was bleibt dann noch von mir übrig? Gibt es überhaupt ein „Ich“, das losgelöst von Erfahrungen existiert? Dieser Frage wird in Filmen immer mal wieder nachgegangen, sei es in Dramen über Demenz-Erkrankungen oder auch Science-Fiction-Werken wie Anon, in dem Erinnerungen gezielt manipuliert werden konnten. Im Fall von Apples wird das auch versucht. Das Umfeld ist jedoch weniger dystopisch. Stattdessen nimmt Regisseur und Co-Autor Christos Nikou dieses an und für sich traurige Szenario und peppt es mit jeder Menge Witz auf, versucht das Existenzielle mit dem Unterhaltsamen zu verbinden.
Daraus hätte man eine recht alberne Komödie machen können, die mit Verwechslungen und Missverständnissen arbeitet – die Voraussetzungen dafür sind gegeben. Der griechische Filmemacher Nikou steht dann aber doch mehr in der Tradition seines Landsmanns Yorgos Lanthimos, mit dem er seinerzeit auch bei Dogtooth zusammengearbeitet hatte. Der Humor hat eine skurrile bis surreale Anmutung, wenn Aris die eigenartigsten Erfahrungen machen und per Kamera festhalten soll. Das ist auch deshalb spaßig, weil der oft mit regungslosem Gesichtsausdruck agierende Aris Servetalis schön verloren wirkt in diesen Szenen. Ob er nun auf einer Kostümparty ist oder auf einem Rad posiert, man merkt zu jeder Zeit, dass seine Figur das nicht ist. Dass er gar nicht weiß, was er da soll.
Über Erinnerungen und das Ich
Apples, das bei den Filmfestspielen von Venedig 2020 Premiere feierte, ist dabei gleichzeitig natürlich Stoff zum Nachdenken. Das betrifft einerseits die bekannten Fragen, inwieweit unsere Identität von unseren Erinnerungen bestimmt ist. Sind wir noch derselbe Mensch, wenn wir nicht mehr wissen, wie unser Leben war? Wie viel von dem, was uns ausmacht, ist angeboren, wie viel die Summe unserer Erfahrungen? Und auch die Überlegung, ob mit künstlich geschaffenen Erinnerungen eine Persönlichkeit kreiert werden kann, ist spannend. Die durch das Experiment vorgegebenen Erfahrungen mögen irgendwie recht bescheuert sein. Doch die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, vielleicht auch die Gefahren, die sind gewaltig.
Während Apples auf diese Weise sehr universell angelegt ist, zudem irgendwie zeitlos – in dem Film scheint niemand ein Smartphone zu haben, auch das 4:3 Bildformat erinnert an längst vergessene Zeiten – funktioniert das hier auch gut als Kommentar zur aktuellen Gesellschaft. Wenn Aris die belanglosesten Erfahrungen fotografiert und zur Quintessenz seines Lebens macht, dann ist der Gedankensprung nicht weit zu den allgegenwärtigen Selfies und dem krampfhaften Versuch, die Welt in erster Linie als Instagram-Geschichte zu sehen. Wirklich ausformuliert wird dieser Part nicht, so wie Nikou es dem Publikum allgemein überlässt, eigene Schlüsse zu ziehen. Während viele dann wohl etwas verdutzt dreinschauen werden, was das am Ende sollte, sollten Zuschauer und Zuschauerinnen, die Filme gern als Diskussionsgrundlage nehmen, diesen allegorischen Sonderling mal ins Auge fassen, den man im Anschluss kaum vergessen wird – Pandemie hin oder her.
OT: „Mila“
Land: Griechenland, Polen, Slowakei
Jahr: 2020
Regie: Christos Nikou
Drehbuch: Christos Nikou, Stavros Raptis
Musik: The Boy
Kamera: Bartosz Swiniarski
Besetzung: Aris Servetalis, Sofia Georgovasili, Anna Kalaitzidou, Argiris Bakirtzis
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Europäischer Filmpreis | 2021 | European University Film Award |
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