Selbst zu reisen war in den letzten Monaten aus bekannten Gründen keine einfache Angelegenheit, von ratsam ganz zu schweigen. Wer es nicht daheim aushält, der hat aber zumindest filmisch ein paar Alternativen, schließlich erfreuen sich Reisedokumentationen nach wie vor großer Beliebtheit. Das bedeutet nicht nur, dass wir fremde Länder sehen dürfen, von denen wir nur träumen können. In den meisten Fällen gehen solche Trips, die schon mal ein paar Monate oder gar Jahre dauern, mit neuen Erkenntnissen einher. Ob es nun die Begegnung mit fremden Kulturen ist, die neu gefundene Nähe zur Natur oder für einen längeren Zeitraum mal tatsächlich mit sich selbst allein zu sein, das kann schon einiges mit einem machen.
Eine beliebte Tortur
Prädestiniert für solche Selbsterfahrungstrips ist natürlich der Jakobsweg. Die 800 Kilometer lange Wallfahrt von Frankreich bis zur spanischen Stadt Santiago de Compostela hat, obwohl seit Jahrhunderten bekannt, in den letzten Jahrzehnten einen sagenhaften Popularitätsschub erhalten. Waren es in der ersten Hälfte der 80er nur wenige Hundert, die sich jedes Jahr auf den Weg begaben, wuchs diese Zahl bis 2019 auf knapp 350.000 – in einem Jahr, wohlgemerkt. Doch auch wenn der Weg teilweise schon zu einer Massenveranstaltung geworden ist, so bietet er nach wie vor die Möglichkeit, sich selbst auf dieser Wanderung neu zu erfahren. Dafür braucht es nicht einmal mehr eine sonderlich religiöse Gesinnung, auch ohne eine solche können die Menschen eine besondere körperlich, geistige und letztendlich emotionale Erfahrung machen.
Von eben solchen erzählt der Dokumentarfilm Himmel über dem Camino – Der Jakobsweg ist Leben!, der während einer dieser Wanderungen entstanden ist. Anders als Nur die Füße tun mir leid, das den Weg als solchen vorstellte, konzentrieren sich die Regisseure Noel Smyth und Fergus Grady ganz auf den persönlichen Aspekt. Genauer sind es sechs Männer und Frauen, die hier im Mittelpunkt stehen und die wir im Laufe der rund anderthalb Stunden kennenlernen. Sie alle haben ihre Gründe, warum sie die Strapazen auf sich nehmen. Teils sind es sehr tragische Gründe, die sich um Verlust drehen, um Trauerarbeit, aber auch den Versuch, wieder zu sich selbst zu finden.
Eine bewegende Dokumentation, die Mut macht
Es hat dadurch etwas sehr Therapeutisches, wenn wir an der Seite der Reisenden durch die Gegend stapfen, sie nicht nur Luft, Zeit und Proviant teilen, sondern auch ihre jeweiligen Lebensgeschichten. Wenn sie davon erzählen, wie jahrzehntelange Beziehungen zerbrachen, Partner oder Kinder starben, dann schnürt es einem das Herz zu. Gleiches gilt, wenn die an degenerativer Arthritis leidende Susan einsehen muss, dass ihr Körper sie im Stich lässt und sie ihr Ziel nicht wird erreichen können. In Himmel über dem Camino – Der Jakobsweg ist Leben! wird es so persönlich und emotional, dass der Weg fast zur Nebensache wird. Die Offenheit der sechs, wenn sie von sich und ihren Schicksalen erzählen, macht die Dokumentation zu einem bewegenden Erlebnis, selbst aus der räumlichen und zeitlichen Distanz heraus.
Doch da ist noch mehr als der Schmerz und die Trauer. Durch das gemeinsame Erleben finden sie Halt und Trost, lernen mit ihren Gefühlen umzugehen und wieder nach vorne zu blicken. Smyth und Grady dokumentieren mit ihrem Werk deshalb nicht einfach eine wochenlange Wanderung, über Straßen und Wege, durch kleine Orte und die Natur. Hier wird der Weg zum Ziel, das Laufen zu einer sehr menschlichen Erfahrung, die den Horizont erweitert und neue Perspektiven schafft. Das macht Mut. Himmel über dem Camino – Der Jakobsweg ist Leben! gibt Hoffnung, dass es immer einen Weg aus der Dunkelheit und den Tiefs gibt. Er dauert nur manchmal etwas länger.
OT: „Camino Skies“
Land: Australien, Neuseeland
Jahr: 2019
Regie: Noel Smyth, Fergus Grady
Musik: Tom McLeod
Kamera: Noel Smyth
Wer mehr über den Film und die Entstehungsgeschichte erfahren möchte: Wir haben uns im Interview mit Fergus Grady und Noel Smith über Himmel über dem Camino unterhalten.
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