Seit ihrem Abenteuer in Krakau ist einige Zeit vergangen und mittlerweile hat sich viel im Leben von Paulina ereignet. Im neuen Comic Paulina Stulins begleiten wir ihre Protagonistin ein ganzes Jahr lang durch verschiedene Episoden des Lebens, angefangen von der Trennung von ihrem langjährigen Freund, ihrem Job in einer Sozialeinrichtung, einer schmerzhaften Ellbogen-OP sowie einem lange verdienten Urlaub mit der besten Freundin. Dazwischen liegt eine Menge Arbeit an einem neuen Comic, eine ganze Menge an Glücksmomente, aber auch viele Selbstzweifel am eigenen Können wie auch am Körper, ausgelöst von dem glücklich-traumatischen Erleben des 30. Lebensjahres. Von ihrer Dachgeschosswohnung in Darmstadt aus zeigt sich das persönliche Glück, aber auch die Umwälzungen jener Jahre, das Erstarken des Populismus, die Wutbürgerkultur sowie die Einwanderungskrise 2015. Dies alles beschäftigt Paulina und sie versucht sich, wie wir alle, einen Weg aus diesen Veränderungen hin zu einer Lebensweise zu finden und ihren Prinzipien treu zu bleiben.
Die Summe aller Möglichkeiten
Nach ihren ersten beiden Comic-Novellen Mindestens eine Sekunde und The Right Here Right Now Thing legt Comicautorin und Illustratorin Paulina Stulin mit Bei mir zuhause ihren ersten Comic-Roman vor. Alleine vom Umfang her ist die Kategorisierung durchaus legitim, denn auf gleich knapp über 600 Seiten lässt Stulin den Leser abermals an ihrem Leben teilhaben, sodass Bei mir zuhause in gewisser Weise als Fortsetzung zu The Right Here Right Now Thing betrachtet werden kann. In ihrem neuen Werk präsentiert sich nichts weniger als eine Version des Lebens in den späten Zehnerjahren des 21. Jahrhundert, wie es auf dem Klappentext heißt, ein Sammelsurium von Eindrücken und Episoden aus der Biografie Stulins, zusammengehalten von den Themen, die schon in den beiden Novellen eine Rolle spielten.
Seit jeher ist das Erreichen des 30. Lebensjahres eines der zentralen Themen, gerade in der Kunst der Millenial-Kultur. Während im Zuge der Globalisierung die Welt auf eine „global village“ schrumpfte, wuchs die Zahl der Möglichkeiten und der Lebensstile auf eine schier unüberschaubare Anzahl. In ihren Protagonistinnen spiegelt sich das Glück dieser Auswahl, aber auch die sprichwörtliche Qual der Wahl wider, wenn es darum geht, das eigene Leben zu leben, zu gestalten, sich nicht festlegen zu wollen, doch irgendwie ja doch gewisse Konstanten im Leben haben zu wollen. Immer wieder zeigt sich dies in den einzelnen Episoden von Bei mir zuhause, wenn Paulina beispielsweise eine alte Schulfreundin damit überrascht, dass sie immer noch in ihrem alten Kinderzimmer wohnt.
Bereits nach den ersten Seiten trennt sie sich von ihrem Freund, mit dem sie in einer offenen Beziehung war. Sehr liberal definiert, weil sich beide gewisse „Erfahrungen“ zugestehen, zerbricht auch dieses Konstrukt, diese eine „Möglichkeit“, wie sie die Protagonistin nennt. Nach wenigen Momenten des Schmollens in der Wohnung, dem Versuch der Konzentration auf andere Dinge, überwältigen sie die Zweifel, die Gewissensbisse und ein Gefühl, vielleicht die Sehnsucht nach dem Partner oder die Sehnsucht nach jener Möglichkeit, die nun wohl für immer verschlossen bleibt.
Die Fackel des Staunens
Wie schon bei The Right Here Right Now Thing besticht auch Bei mir zuhause durch die Wahl der Protagonistin. Paulina ist keine typische Heldin, wenn man streng nach der Definition geht, sondern sie wirkt authentisch, kann manchmal sinnlos ausrasten, hat Fressattacken oder fühlt sich in ihrem Selbstmitleid wohl. Mag es auch gewisse Konstanten in ihrem Leben geben, den großen Plan scheint es nicht zu geben, oder zumindest erscheint es nicht so, wenn man durch die Seiten des Comics blättert. Vielmehr sind es die Möglichkeiten, die Erlebnisse, die Paulina immer wieder mit großen Augen staunen lassen, über das, was in der Welt geschieht und sogar über ihre eigenen Verhaltensweisen. Nicht immer wird man mit ihr übereinstimmen, vielleicht wird man sich als Leser sogar über Paulina aufregen, aber gerade das macht sie zu einer so überzeugenden und sympathischen Protagonistin.
OT: „Bei mir zuhause“
Land: Deutschland
Jahr: 2020
Texte: Paulina Stutlin
Zeichnung: Paulina Stulin
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