Yakoub Daoud (Roschdy Zem) hat schon viel gesehen in seinem Leben, sowohl als Sohn algerischer Einwanderer wie auch als Polizist in der Kleinstadt Roubaix. Dort gibt es immer etwas zu tun: Mal kommt es zu einem rätselhaften Brand, eine Jugendliche ist verschwunden, ein Vergewaltiger treibt sein Unwesen. Und dann wurde da noch eine ältere Dame ermordet, Claude (Léa Seydoux) und Marie (Sara Forestier), zwei Nachbarinnen, haben den Vorfall gemeldet. Da ist es ganz gut, dass Louis Cotterelle (Antoine Reinartz) da ist, der Neue im Team, den Daoud herumführt und dem er die Besonderheiten des Ortes zeigt, in aller Ruhe, so wie es die Leute von ihm gewohnt sind …
Das Konzept des Krimis sieht normalerweise vor, dass irgendwo ein Verbrechen begangen wurde und anschließend jemand, sei es beruflich oder privat, die Hintergründe und Verantwortlichen dieser Verbrechen ermittelt. Grundsätzlich ist das in Im Schatten von Roubaix zwar ähnlich. Hier ist es der Kommissar Daoud, im geringeren Maße auch sein junger Kollege Cotterelle, der Licht ins Dunkel zu bringen versucht. Und dunkel ist so einiges in Roubaix. Nicht nur, dass hier ständig irgendetwas zu passieren scheint. Der Film zeigt die Kleinstadt auch mit Vorliebe von einer düsteren Seite. Selbst wenn die Szene nicht nachts spielt oder im Inneren des düsteren Kommissariats, irgendwie scheint immer das Licht zu fehlen.
Verbrechen als Hintergrunddeko
Dabei interessiert sich Regisseur Arnaud Desplechin, der gemeinsam mit Léa Mysius (Ava – Plötzlich erwachsen) das Drehbuch geschrieben hat, nicht so wirklich für die Verbrechen. Die werden zwar schon aufgeklärt, meistens. Doch das geschieht eher beiläufig, ist nur ein Nebenprodukt der Geschichte. Gleichzeitig ist es auch nicht so, als würde Im Schatten von Roubaix so wahnsinnig viel über die Figuren verraten, was eine in vielen anderen Filmen und Serien gezeigte Alternative ist. Nicht der Fall steht bei solchen im Mittelpunkt, sondern die Menschen, die damit zu tun haben. Hier bekommen wir höchstens Fragmente aus dem Leben präsentiert. Beispielsweise ist ein wiederkehrendes Thema der Neffe von Daoud, der im Gefängnis sitzt und seinen Onkel mehr als alles andere hasst. Eine Erklärung für beides erhalten wir aber nicht.
Die erste, sehr episodenhaft-fragmentarische Hälfte hat dann auch weniger etwas von einem herkömmlichen Spielfilm. Stattdessen gleicht das mehr einer Dokumentation, die den Alltag einer solchen Polizeistation exemplarisch zeigt. Wenn Im Schatten von Roubaix selbst auf einer solchen basiert, dann überrascht das nicht sonderlich. Und doch ist es irgendwie verblüffend, weil über weite Strecken gar nicht klar ist, was Desplechin da eigentlich vorhat. Neugierig folgt der Filmemacher seinen Figuren, folgt ihnen ins Private wie Berufliche, bleibt dabei aber jeweils auf Distanz. So als wäre er nie wirklich da.
Eine rätselhafte Zumutung
Erst in der zweiten Hälfte wird aus dem Flickenteppich so etwas wie ein tatsächlich narratives Werk, als der Fall um die ermordete ältere Dame in den Vordergrund rückt. Aber selbst dann bleibt das Krimidrama, das bei den Filmfestspielen von Cannes 2019 Premiere feierte, ein ganz eigener Film. Viel ermittelt wird nicht, dafür umso mehr befragt. Doch was in anderen Krimis ein Mittel zum Zweck wird, ein Stadium der Wahrheitsfindung, wird zum Selbstzweck. Daoud und die diversen Kollegen und Kolleginnen setzen auf eine Zermürbungstaktik, die Figuren wie dem Publikum gleichermaßen zusetzt, hässlich, brutal, aber auch irgendwie faszinierend.
Dass der Film damit nicht nur Fans gewonnen hat, ist klar. Während Roschdy Zem (Le Jeu – Nichts zu verbergen) viel Lob für seine Darstellung des melancholischen Felsen in der Brandung erhielt, sogar mit einem César als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet wurde, scheiden sich am Drumherum die Geister. Wer einen klassischen Krimi will und braucht, der ist an der falschen Adresse. Die Verbrechen sind hier Teil der Atmosphäre, nicht einer Geschichte als solchen. Die hat es dafür in sich, Im Schatten von Roubaix knüpft an die Detektivgeschichten einer längst vergangenen Zeit an, wirkt selbst etwas aus der Zeit gefallen, an anderen Stellen dafür sehr aktuell, wenn der Kommissar sich seinen eigenen Wurzeln als Einwandererkind stellt. Ob das nun wichtig ist oder nicht, bleibt ein Rätsel. Wie so vieles in der Welt des Polizisten, die sich in Widersprüchen verliert, Teil eines größeren Ganzen ist und doch ohne jeden Zusammenhang.
OT: „Roubaix, une lumière“
AT: „Oh Mercy!“
Land: Frankreich
Jahr: 2019
Regie: Arnaud Desplechin
Drehbuch: Arnaud Desplechin, Léa Mysius
Musik: Grégoire Hetzel
Kamera: Irina Lubtchansky
Besetzung: Roschdy Zem, Léa Seydoux, Sara Forestier, Antoine Reinartz
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
Cannes | 2019 | Goldene Palme | Nominierung | |
César | 2020 | Bester Film | Nominierung | |
Beste Regie | Arnaud Desplechin | Nominierung | ||
Bester Hauptdarsteller | Roschdy Zem | Sieg | ||
Beste Nebendarstellerin | Sara Forestier | Nominierung | ||
Beste Kamera | Irina Lubtchansky | Nominierung | ||
Bestes adaptiertes Drehbuch | Arnaud Desplechin, Léa Mysius | Nominierung | ||
Beste Filmmusik | Grégoire Hetzel | Nominierung | ||
César des lycéens | Nominierung | |||
Prix Lumières | 2020 | Bester Film | Nominierung | |
Beste Regie | Arnaud Desplechin | Nominierung | ||
Bester Hauptdarsteller | Roschdy Zem | Sieg | ||
Beste Kamera | Irina Lubtchansky | Nominierung |
Cannes 2019
Französische Filmtage Tübingen-Stuttgart 2020
Französische Filmwoche Berlin 2020
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