Lange hat Charlie (Noémie Merlant) ihren älteren Bruder Vicent (Guillaume Gouix) schon nicht mehr gesehen, aus gutem Grund: Insgesamt zwölf Jahre musste er ins Gefängnis nach einem blutigen Zwischenfall. Jetzt ist er wieder draußen, sucht Anschluss in der Welt da draußen, eine Unterkunft und eine Arbeit. Doch das ist nicht leicht, schließlich kam Vincent seinerzeit schon als junger Mann in den Knast, er hat nie etwas gelernt oder auch irgendwelche Arbeitserfahrungen gesammelt. Hinzu kommt, dass er auch nach der langen Zeit hinter Gittern Schwierigkeiten hat, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, immer wieder kommt es zu spontanen Gewaltausbrüchen, mit denen er alles zu zerstören droht …
Wer seine Strafe im Gefängnis abgesessen hat, der hat das Recht auf ein selbstbestimmtes, freies Leben als vollwertiges Mitglied in der Gesellschaft. So zumindest die Theorie. In der Praxis sieht das natürlich etwas anders aus. Zum einen sind Vorbestrafte nicht nur unbedingt für tolle Jobs prädestiniert, wenn sie gegen die Vorbehalte der potenziellen Arbeitgeber ankämpfen müssen. Filme wie Lorelei zeigen auf, dass der Weg zurück in die Gemeinschaft ausgesprochen schwierig ist, wenn Perspektiven und Möglichkeiten fehlen. Wie verführerisch es dadurch ist, es erst gar nicht mit dem redlichen Leben zu versuchen.
Die fehlende Erfahrung einer Gemeinschaft
Doch die Arbeit allein ist nicht alles, ebenso mangelnde Qualifikationen. In Paper Flags erhält Vincent durchaus Chancen, eine Arbeit anzutreten, die zwar nicht ruhmreich, dafür aber respektabel ist. Und es ist auch nicht so, dass er nicht arbeiten will. Das tut er, unbedingt sogar. Seine Schwierigkeit liegt vielmehr darin, dass er nie ein normales Leben geführt hat. Dass er zu früh ins Gefängnis kam: Wer von 30 Jahren gleich zwölf hinter Gittern verbracht hat, dessen soziale Kompetenzen hatten praktisch zwangsläufig nicht die Möglichkeit, sich zu entwickeln. Und so gibt es in dem französischen Drama immer wieder Szenen, in denen der Protagonist überfordert ist, nicht weiß, wie er sich verhalten soll und im Zweifel wieder zur Gewalt greift, der einzigen Sprache, die er tatsächlich beherrscht.
Regisseur und Drehbuchautor Nathan Ambrosioni hat mit seinem Film daher durchaus auch eine Kritik am französischen Justizsystem gedreht. Zwar erhält Vincent immerhin eine psychologische Betreuung, wird ansonsten aber einfach vor die Tür gesetzt und sich selbst überlassen. Reintegration gerne, sollen aber andere machen. Und doch ist der Beitrag der Französischen Filmwoche 2020 nur bedingt ein gesellschaftlich ausgerichteter Film. Vielmehr ist das Werk des damals erst 19-jährigen Ambrosioni ein sehr persönliches, das von einem gebrochenen Menschen erzählt sowie einer schwierigen und zugleich rührenden Bruder-Schwester-Beziehung, in der vieles aufgefangen werden muss, was an anderer Stelle versäumt wurde.
Bewegend-impressionistischer Einblick
Dabei ist Paper Flags kein Film der großen Worte. Es dauert hier schon eine Weile, bis man überhaupt weiß, um was es geht. Zu Beginn erkennt Charlie ihren Bruder nicht wieder, den sie jahrelang nicht gesehen hat. Unweigerliche Fragen zu den Hintergründen der Haftstrafe und der familiären Situation von Vincent werden erst spät und auch nur zum Teil beantwortet. Die Anmutung des Films ist zwar grundsätzlich eher dokumentarisch, eine tatsächliche Abbildung des Lebens findet aber nicht statt. Stattdessen gibt es einen impressionistisch-fragmentarischen Einblick, eine Abfolge von Momentaufnahmen, die nur zum Teil aufeinander aufbauen.
Das ist auch der starken schauspielerischen Leistungen wegen sehenswert. Guillaume Gouix (The Returned) gefällt als ruhiger Außenseiter, dessen Innenleben in einem ständigen Aufruhr ist und der einem Vulkan gleich zu explodieren droht. Noémie Merlant (Porträt einer jungen Frau in Flammen) ist zugänglicher, aber nicht weniger verwundbar, eine junge Frau, die einer Aufgabe gegenübersteht, die sie selbst nicht erfüllen kann. Es geht zu Herzen, wie sich da zwei Menschen gegenüberstehen, die sich fremd sind und sich doch zueinander hingezogen fühlen. Das ist vielleicht nicht aufregend, sieht man einmal von den unkalkulierbaren Ausbrüchen ab, aber doch ein Fall für ein Publikum, das leise Geschichte um Menschen am Rand der Gesellschaft zu schätzen weiß.
OT: „Les drapeaux de papier“
Land: Frankreich
Jahr: 2018
Regie: Nathan Ambrosioni
Drehbuch: Nathan Ambrosioni
Musik: Matthew Otto
Kamera: Raphaël Vandenbussche
Besetzung: Noémie Merlant, Guillaume Gouix
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)