So richtig viel Erfahrung beim Umgang mit anderen Menschen hat Bart Bromley (Tye Sheridan) nicht. Aus diesem Grund hat der am Asperger Syndrom leidende junge Mann in den Zimmern des Hotels, in dem er als Nachtportier arbeitet, jede Menge Überwachungskameras installiert. Die Aufnahmen der Gäste sollen ihm dabei helfen, seine Unbeholfenheit zu überwinden, indem er die Sprache und Dialoge imitiert, die er auf Videos festhält. Als er eines Nachts auf diese Weise sieht, wie eine Frau bedroht wird, versucht er ihr zur Hilfe zu eilen, nur um festzustellen, dass sie bereits tot ist. Während der ermittelnde Polizist Detective Espada (John Leguizamo) misstrauisch ist und schnell Bart im Verdacht hat, etwas zu verschweigen, beginnt dieser eine Stelle in einem anderen Hotel, wo er die Bekanntschaft von Andrea Rivera (Ana de Armas) macht und bald Gefühle für sie entwickelt …
Eine unbescholtene Person wird Zeuge, wie jemand anderes ermordet wird und wird anschließend selbst in die Geschichte hineingezogen – das ist ein Motiv, das in Krimis und Thrillern immer wieder gerne verwendet wird, siehe etwa die Klassiker Das Fenster zum Hof und 16 Uhr 50 ab Paddington. Kein Wunder, bietet es dem Publikum normalerweise doch viel Identifikationsfläche verbunden mit Nervenkitzel, und das alles bequem von zu Hause oder dem Kinosessel aus. The Night Clerk – Ich kann dich sehen geht da prinzipiell in eine ähnliche Richtung, verzichtet aber gleich in mehrfacher Hinsicht darauf, den Protagonisten zu einem wirklichen Alter Egos des Zuschauers zu machen. Der eine große Unterscheidungsfaktor ist dabei natürlich, dass Bart autistische Züge hat. Jede Begegnung mit anderen Menschen überfordert ihn, der Alltag ist für ihn ein großes Rätsel, er weiß so gut wie nie, was gerade „normal“ wäre und wie er sich verhalten soll.
Ein Leben aus zweiter Hand
Das ist in dem Zusammenhang eine durchaus reizvolle Idee. Ein Mordzeuge, der zwischenmenschliches Verhalten nur aus der Beobachterperspektive kennt und dieses nachzuahmen versucht, das ist mal etwas anderes. Ein Gefangener, der einen Vorfall in der Welt da draußen in Ordnung bringen muss, ohne zu wissen wie das geht, daraus hätte man etwas machen können. Regisseur und Drehbuchautor Michael Cristofer, der knapp zwanzig Jahre nach seinem letzten Film hier sein Comeback feiern wollte, wusste aber nicht so recht, was mit dem Thema anzufangen ist. Also baut er das Syndrom immer dann ein, wenn es ihm gerade passt, und lässt es ansonsten weg.
Auch der Faktor des Voyeurismus, der in einem solchen Mordzeuge-Szenario immer wieder eine Rolle spielt, kommt ziemlich kurz. Die große Überwachungsanlage in dem Hotel, die an den Erotikthriller Sliver erinnert, wird zwar genutzt, um die Geschichte einzuleiten. Barts parasitische Einstellung, durch das Leben anderer selbst zu leben, wird in den meisten Szenen jedoch einfach ignoriert. Die vielen Möglichkeiten eines Protagonisten, der seinen Alltag durch zusammengepuzzelte Beobachtungen definiert, werden nicht einmal ansatzweise genutzt. Selbst als The Night Clerk sich an einer Art Noir-Thriller versucht und Andrea als Femme Fatale einführt, werden die offensichtlichen Anknüpfungspunkte einer konstruierten Wirklichkeit, die im Auge des Betrachters entsteht, ignoriert oder nicht gesehen.
Und wo ist die Spannung?
Diese verblüffende Missachtung des Potenzials ist natürlich schon ärgerlich, wäre aber zu verkraften gewesen, wenn Cristofer denn eine Alternative angeboten hätte. Wenn der Thriller wenigstens spannend wäre. The Night Clerk macht aber den Fehler, gleichzeitig völlig überkonstruiert zu sein, das aber nicht konsequent mit Handlung zu verbinden. Über weite Strecken passiert nämlich irgendwie … nichts. Die Ermittlungen gehen weiter, halten sich mit Details auf, die das Drehbuch vorsorglich, wenn auch wenig glaubwürdig zurückgelassen hat, ohne dass daraus Nervenkitzel generiert würde. Bart gerät nie in Gefahr, es gibt keine weiteren Morde, etwas, das dem Label Psychothriller gerecht würde. Man wartet und wartet und wartet, bis der Film nach anderthalb Stunden auf einmal vorbei ist.
Wenn er dabei nicht ganz im Abgrund ertrinkt, dann liegt das in erster Linie an der Besetzung. Während John Leguizam und Helen Hunt, die Barts Mutter spielt, nichts Nennenswertes zu tun bekommen, ist es doch irgendwie rührend, wie sich die beiden Hauptfiguren mit der Zeit näher kommen. Tye Sheridan (Ready Player One) und Ana de Armas (Knives Out – Mord ist Familiensache), zwei der interessanteren Jungstars der letzten Jahre, bemühen sich redlich, aus dem leblosen Drehbuch trotzdem etwas zu machen. An manchen Stellen gelingt es ihnen so gut, dass man nur darüber spekulieren kann, was eventuell alles möglich gewesen mit diesem Szenario und einer hypothetischen Geschichte, die es tatsächlich wert wäre, erzählt zu werden.
OT: „The Night Clerk“
Land: USA
Jahr: 2020
Regie: Michael Cristofer
Drehbuch: Michael Cristofer
Musik: Erik Hall
Kamera: Noah Greenberg
Besetzung: Tye Sheridan, Ana de Armas, John Leguizamo, Helen Hunt
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