In der Hauptstadt Japans gibt es viele Geschichten zu erzählen und viele Geheimnisse zu lüften, manche werden verwirren, andere wiederum schockieren. So zum Beispiel die erste Geschichte, in der ein junger Angestellter, von Trauer geplagt nach dem Tod seiner Frau, die mysteriöse Styx Agentur beauftragt, ihm beim Ableben zu helfen. Beim ersten Gespräch mit seiner Sachbearbeiterin erzählt er, nicht nur von der Tragödie, sondern auch von seinem Fluch, den er muss den gleichen Tag immer und immer wieder neu erleben, wobei er schon alles versucht hat, um diesem Schicksal zu entkommen. Zunächst glaubt die ihm nicht, doch meint dann, schon einmal eine ähnliche Geschichte gehört zu haben, aus der sich das Opfer befreien konnte, indem ein Mensch geopfert wurde. Da er ohnehin nichts zu verlieren hat, bringt der Angestellte einen jener Gangster um, die er für den Tod seiner Frau verantwortlich macht, doch anstatt nun einen neuen Tag zu erleben, reist er immer weiter zurück in der Zeit.
Die Nächte sind lang in Tokio, auch für die Protagonistin der zweiten Geschichte, die nach einem Aufenthalt in einem Klub erschöpft nach Hause kommt und in ihrer Wohnung auf eine seltsame Haarnadel aufmerksam wird, die sie nach einigem Zögern anprobiert. Der Blick in den Spiegel erschrickt sie, denn ihr Spiegelbild zeigt eine dämonische Fratze, die von nun an ein blutiges Eigenleben entwickelt. Auch die dritte Geschichte spielt in den nächtlichen Straßen der Stadt, die das Jagdrevier einer jungen Frau bilden, einer Geisterjägerin, die es auf Schattenwesen abgesehen hat, die immer wieder andere Menschen terrorisieren. Dumm nur, dass eines dieser Wesen eine gewisse Anhänglichkeit zu ihr entwickelt hat und nicht mehr von ihrer Seite weicht.
Den Schluss bildet die Geschichte eines jungen Mannes, der, aus Wut darüber von seiner Freundin versetzt worden zu sein, die berühmte Statue von Hachiko, jenem Hund, der nach der Überlieferung treu auf sein Herrchen am Tokioter Bahnhof wartet, beschmutzt. Diese erwacht nun zum Leben, beißt den Angreifer, der sich wenig später, mit Erscheinen des Vollmonds, zu einem Werwolf verwandelt und beginnt Tokio heimzusuchen.
Zu den Ursprüngen des Horrors
Die Tradition des Grand Guignol-Theaters in Frankreich, die mysteriösen und teils sehr blutigen Geschichten, die auf dessen Bühne gezeigt wurden, bilden die Inspiration für das vom japanischen Produzenten Hiroei Ishihara ins Leben gerufene Projekt Tokyo Grand Guignol, welches von vielen bekannten Filmemachern des Genres, unter anderem Xavier Gens (The Divide, Frontier(s)) unterstützt wurde. Ishihara war, nach eigener Aussage, enttäuscht über den Mangel an Kreativität vieler Filme seiner Heimatlandes, sodass er beschloss, mithilfe von Nicolas Alberny, François Gaillard, Gilles Landucci und Yann Moreau vier Horror-Episoden zu drehen, die vor dem Hintergrund des nächtlichen Tokios Geschichten erzählen, die sinnbildlich für den Facettenreichtum des Genres, aber auch der Stadt an sich stehen.
Die Vielfalt ist sowohl Segen als auch Fluch eines Episodenfilms, unabhängig vom Genre. Während Projekte wie die Creepshow-Reihe (zumindest der erste Film) nicht nur handwerklich, sondern auch erzählerisch gelungen sind, fehlt es vielen dieser Projekte, speziell wenn mehrere Regisseure involviert sind, nicht selten an diversen Stellen, was erklärt, warum es gerade qualitativ zwischen den Episoden einen solchen Unterschied gibt. In diese letzte Kategorie fällt auch Tokyo Grand Guignol, dessen Episoden zwar durch das Setting der japanischen Hauptstadt einen geografischen Rahmen besitzen, sich aber in Struktur, Ton, Herangehensweise und technischer Umsetzung sehr unterscheiden. Mag dies auch den Reiz eines solchen Vorhabens ausmachen, deutet es aber auch ein prekäres Ungleichgewicht in Sachen in puncto Qualität hin, welches man besonders bei der schwächeren dritten Episode wahrnimmt, die selbst in dieser kurzen Fassung viel länger andauert, als es es ihr und dem Zuschauer guttut.
Die Nacht über Tokio
Für sich allein betrachtet, lassen sich zwar die qualitativen Unterschiede der Episoden bemerken, aber auch die Kreativität und die Leidenschaft der Macher. Besonders die Zeitreisegeschichte sowie die um den Dämon im Spiegel bestechen zum einen durch ihre clevere Struktur und Umsetzung oder aber durch ihre Ästhetik, welche gerade bei der zweiten Episode tatsächlich an jene berühmte Bühne Frankreichs denken lässt, die als Geburtsort des Horrorgenres angesehen wird. Auch die vierte Episode besticht durch ihren Bezug auf eine der wohl bekanntesten Geschichten Tokios als eine schwarzhumorige Fabel über Treue und Loyalität, die bisweilen an John Landis’ American Werewolf in London denken lässt.
Den Geschichten gemein ist, dass in ihnen Tokio nicht bloß den Hintergrund der Episode bildet, sondern in vielfacher Hinsicht als ein eigenständiger Charakter angesehen wird. Von lokalen Legenden wie dem Hund Hachiko angefangen sind es die engen Gassen, die Amüsiermeilen Shibuyas, die Geschäftsviertel sowie das pulsierende Nachtleben, welches in den Episoden gezeigt wird. Tokio mit seinen Versprechungen und Geheimnissen ist die moderne „grand guignol“, die Bühne für die Figuren, aber auch der Ort, der solche Geschichten wahrscheinlich macht, das Mysteriöse, das Abstruse wie auch das Absurde betont, weil es als Stadt all diese Facetten in sich vereint.
OT: „Tokyo Grand Guignol“
Land: Japan
Jahr: 2015
Regie: Nicolas Alberny, François Gaillard, Gilles Landucci, Yann Moreau
Drehbuch: Nicolas Alberny, Gilles Landucci, Yann Moreau, Maki Hisatomi, Guilhelm Sendras
Musik: Nicolas Alberny, Samuel Debout, Dragon Double, Camille Griot
Kamera: Nicolas Alberny, François Gaillard, Yann Moreau, Nima Rafighi
Besetzung: Rei Atsumi, Dora, Jigoroh, Kimu Kimura, Masaki Kurusu, Tamotsu Maruno
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