Florian ist sexsüchtig. Ständig kann er an nichts anderes als an Sex denken, sitzt stundenlang vor dem PC und schaut sich Pornos an, gibt sein Geld für Bordellbesuche aus und fühlt sich nicht nur von Personen, sondern auch von Gegenständen erregt. Die Sucht hat seinen kompletten Alltag in Beschlag genommen, sodass er Schwierigkeiten hat, eine Beziehung einzugehen oder aufrechtzuerhalten sowie einfache Hausarbeiten zu erledigen. Auf seiner Arbeit wurde er bereits mehrfach ermahnt von seinem Chef, der nicht so recht umzugehen weiß mit dem hohen Pornokonsum seines ansonsten zuverlässigen Mitarbeiters. Florian war schon bei einer Vielzahl von Ärzten, Therapeuten und sogar Heilern, die er alle um Rat gebeten hat, doch so richtig geholfen hat alles nicht, wenn man einmal absieht von der Idee, es einmal mit einer Selbsthilfegruppe für Süchtige zu versuchen, was Florian letztlich tut. Das Reden über die Sucht, den Alltag und die Probleme, die aus dem ständigen Denken an Sex entstehen, zeigt zunächst wenig Wirkung, doch dann geht Florian selbst auf Spurensuche. Er rekapituliert das Verhältnis zu seiner Familie, den abwesenden Vater sowie die Reaktion, als er sagte, er sei transsexuell. Auf dem Weg zur Kontrolle über die Sucht hat Florian einen wichtigen Schritt gemacht, doch es sind noch viele vor ihm und die Sucht steht immer kurz davor, wieder die Oberhand zu gewinnen.
Inventur in unserem Inneren
In seinem stark autobiografisch geprägten Comic XES erzählt Florian Winter über Sexsucht, über einen Mann, der an ihr leidet, aber auch über das Verhältnis einer Gesellschaft zum Thema Sexualität. Die Idee zu der Geschichte kam ihm, wie er in einem Interview mit comic.de berichtet, bei einer Sitzung einer Selbsthilfegruppe, in welcher der vierte Schritt des Zwölf-Schritt-Programms („Wir machen eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren“) besprochen wurde. Daraufhin machte er sich daran, die Geschichte seiner Sucht zu erzählen, etwas unstrukturiert und unter Rückgriff auf die Erfahrungen anderer mit der Sucht, aber mit dem Ziel im Hinterkopf eben jene Inventur zu vollziehen.
In gewisser Weise hat XES eben jenen Charakter des mündlichen Berichts, wie man ihn auf einem Treffen einer Selbsthilfegruppe wohl hören würde. Auch wenn die Erzählung als solche einen dramaturgischen Aufbau besitzt, springt sie immer zwischen den Zeiten, erzählt von einem bezeichnenden Erlebnis aus der Jugendzeit in der Familie nur um dann wieder in die Gegenwart zurückzukommen und den abermaligen Besuch in einem Bordell zu schildern. Darüber hinaus gibt es surreale, albtraumhafte Passagen, die mit viel Fantasie beispielsweise die Sucht als eine Art übermächtiges Monster beschreiben, welches immer größer wird und letztlich die Welt zu zerstören droht. Mit einfachen Mitteln und einer klaren Farbgebung, die alles, was mit Sucht und Sexualität zu tun hat, in ein tiefes Rot taucht, verdeutlicht Winter, wie teilweise zufällig die Sucht in den Alltag eindringt und eine augenscheinlich normale Situation in ein anderes Licht rückt.
Schritte zur Kontrolle
Durch die biografische Perspektive auf das Thema Sexsucht gelingt ein Blick auf einen Zustand, der nicht nur schwer zu kontrollieren ist, sondern in der Gesellschaft nach wie vor auf wenig Akzeptanz stößt. Bereits früh in der Erzählung zeigen einige Panels Reaktionen von Passanten verschiedenster Altersgruppen, die von Unverständnis, Wut bis hin zu Belustigung gehen, wenn man sie mit dem Thema konfrontiert. Die Einsamkeit, die Winters Protagonist erlebt, wird verstärkt durch die gesellschaftliche Isolation, die Sex als eine Tatsache des Alltags akzeptiert hat und für die eine Kontrolle über Sexualität scheinbar ein Naturgesetz darstellt. Dies macht es schwierig, über die Sucht zu reden, aber auch diese zu kontrollieren, denn die Omnipräsenz des Themas Sex weist hin auf ein nicht weniger gestörtes Verhältnis zum Thema an sich. Winter beschreibt dies als einen Teufelskreis, aus dem es schwierig ist, zu entkommen.
OT: „XES“
Land: Deutschland
Jahr: 2020
Texte: Florian Winter
Zeichnung: Florian Winter
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