Mit Blick auf dessen politische Relevanz, die Schulbildung sowie die Erinnerungskultur generell, lässt sich rein oberflächlich feststellen, dass Deutschland eines der wenigen Länder ist, welches einen erhöhten Wert auf die Aufarbeitung der eigenen Geschichte legt. Was in anderen Kulturen teils sehr stiefmütterlich behandelt wird oder im politisch-gesellschaftlichen Diskurs so gut wie keine Rolle spielt, findet sich in Deutschland nicht nur in einer Vielzahl von Museen, Denkmälern sowie diversen anderen Veranstaltungen wieder, sondern ist auch Teil des Alltags vieler Menschen, mit Verweis beispielsweise auf die „Stolperstein“-Initiative. Dennoch besteht eine nicht zu übersehende Distanz zwischen dieser Erinnerungskultur und einem tatsächlichen Verständnis oder gar einer Anteilnahme für die Zeit der Judenverfolgung und des Holocausts, wenn man alleine das Wiedererwachen antisemitischer Tendenzen oder von offen vorgetragenen Rechtspopulismus sieht. Die Vergangenheit ist präsent, sie ist unübersehbar, hat den Alltag vieler Menschen genauso geprägt wie das Bild vieler Städte, doch bis zu den Köpfen oder gar den Herzen vieler Menschen sind die Bilder von Auschwitz und Dachau nicht immer, erscheinen diese doch immer mit einer zeitlichen Distanz.
Fast möchte man meinen, dass jener Prozess der „Verdinglichung“ des Grauens des Shoah, vor dem einst Theodor W. Adorno noch warnte, stattgefunden hat, von einer Abstraktion, die das Leid mit einer Distanz, aber nicht mit Empathie wahrnimmt. Die Frage, warum in der deutschen Mehrheitsgesellschaft der Umgang mit der eigenen Geschichte sich nicht geändert hat, ein Verständnis dafür da ist, dass die Shoah jeden betrifft, bildet den Hintergrund für die Dokumentation Displaced der Regisseurin Sharon Ryba-Kahn, die dieses Jahr auf dem Filmfestival Max Ophüls zu sehen ist. In diesem geht die Filmemacherin der eigenen Familiengeschichte auf den Grund, ausgehend von der Biografie ihres Großvaters, der die Shoah überlebte, sowie ihrer Beziehung zu ihrem Vater, mit dem sie sieben Jahre keinen Kontakt mehr hatte, bis dieser sich bei ihr aus heiterem Himmel wieder meldete. Ihre Reise führt sie nach Israel, aber auch nach Deutschland und nach Polen, wo sie die Geschichte ihres Großvaters vor, während und nach der Shoah weiterverfolgt.
Das Erbe lebt in der Nachwelt weiter
Es ist eine Szene ziemlich am Anfang von Displaced, welcher in vielerlei Hinsicht symbolisch für die Reise steht, welche Ryba-Kahn in ihrer Dokumentation auf sich nimmt. Am Grab ihres Großvaters stehen sowohl sie als auch ihr Vater Moritz, putzen nach alter Sitte Steine mit Taschentüchern ab, bevor sie dies auf den Grabstein Chaim Rybas legen, auf dessen Grabinschrift etwas von dem Erbe steht, was er an seine Familie gegeben hat und in diesen weiterlebt. Die Frage nach diesem Erbe beschäftigt nicht nur Ryba-Kahn, sondern auch ihre zahlreichen Gesprächspartner, die sich von Berufs wegen mit diesem befassen, wie beispielsweise die Historiker und Beamten, auf welche sie trifft, sowie ihre Freunde, mit denen sie zur Schule ging. Dieses Erbe ist ihres, aber es verbindet alle, egal ob jüdisch oder deutsch, lässt es sich doch zurückverfolgen in der eigenen Geschichte, auch wenn nicht jeder den Mut oder den Willen hat, dies nachzuverfolgen.
Über weite Strecken ist dies eine vertrackte und sehr schwierige Suche nach Antworten, welche der Zuschauer mitverfolgt. Die mühseligen Telefonate und Gespräche mit dem Vater, die nicht immer verlässliche Quellenlage und dann natürlich die eigene Verarbeitung des Wissens, welches man empfangen hat und welches das eigene Weltbild nachhaltig verändern kann und wird. Dabei zeigt sich immer wieder das Dilemma einer emotional-persönlichen wie intellektuellen Herangehensweise, denn, obwohl eine Mischung aus beidem gebraucht, erlaubt sich die letztere eigentlich nicht. So ist Displaced nicht nur eine Suche nach dem eigenen Erbe, sondern auch ein Versuch des Durchdringens zum Gegenüber, wie beispielsweise in den Unterhaltungen der Regisseurin mit ihren Freundinnen, die nicht selten in einem Schweigen enden, wenn die Angst vor der Wahrheit oder der eigenen Vergangenheit überwiegt.
OT: „Displaced“
Land: Deutschland
Jahr: 2020
Regie: Sharon Ryba-Kahn
Drehbuch: Sharon Ryba-Kahn
Musik: Dascha Dauenhauer
Kamera: Omri Aloni
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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First Steps Award | 2020 | Bester Dokumentarfilm | Nominierung |
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