Liest man als Außenstehender von den vielen Strömungen und Epochenbegriffen innerhalb der Kunstgeschichte, entsteht oft der Eindruck, diese seien durch eine Veränderung der Wahrnehmung der Wirklichkeit einhergegangen, ausgehend von einer kleinen Anzahl von Künstlern, Autoren oder Filmemachern, die eben das Glück hatten, diese Neuerungen frühzeitig in ihre Kunst zu integrieren. Mag ein Teil dieser Idee auch faktisch stimmen, so müssen noch andere, wesentlich wichtigere Aspekte berücksichtigt werden, erst recht, wenn wir ins späte 19. Jahrhundert und dann ins 20. Jahrhundert hineingehen, in welchem die Rolle von politischen, wirtschaftlichen wie auch technologischen Faktoren eine Rolle spielen. Gerade in der Filmgeschichte wären die vielen Umwälzungen innerhalb einer Kultur undenkbar ohne die veränderten technischen Möglichkeiten wie der Erfindung der Handkamera, dem Übergang zum Ton- und dann zum Farbfilm sowie die Verfügbarkeit technisch hoch entwickelter Kameras, was gerade mit dem Aufkommen von Handys und deren Entwicklung, immer wichtiger geworden ist.
Auch eine Bewegung wie die des New Hollywood in den 1960er und 1970er Jahren war keinesfalls alleine eine Folge einer veränderten Wahrnehmung, ging dieser doch ein nicht unwesentlicher wirtschaftlicher Faktor einher, nämlich dem Ausbleiben der Kinobesucher für die immer opulenter ausgestatteten Studioproduktionen sowie die Bedeutung des Fernsehens. Die Distanz zwischen Publikum und den Geschichten, welche das Kino erzählte, konnte nicht größer sein, denn die heile Welt eines Doris Day-Films hat nichts mehr gemein mit einer vom Vietnamkrieg und der Bürgerrechtsbewegung definierten Wirklichkeit. So lassen sich für diese Zeit viele solcher „New Waves“ attestieren, wobei es teils etwas länger dauerte, bis es in anderen Teilen der Welt auch so weit war, denn beispielsweise in Taiwan kann man erst in den 1980ern im Nachhinein von einer solchen Bewegung sprechen. Jedoch legten die politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen des Landes im vorherigen Jahrzehnt, gepaart mit dem noch nicht überwundenen Albtraum des „White Terror“ der 1950er Jahre den Grundstein für das Kino eines Edward Yang oder Hou Hsaio-Hsien, um nur zwei Namen zu nennen, die in Chinlin Hsiehs Dokumentation über die Bewegung des Taiwan New Cinema und dessen Filme eine Rolle spielen.
Auf Kollisionskurs mit der Wirklichkeit
In seiner abendfüllenden Dokumentation Flowers of Taiwan: Taiwan New Cinema geht Regisseur Hsieh dem Ursprung des New Cinema seines Heimatlandes nach, dem Schaffen seiner wichtigsten Vertreter und deren Wirkung auf andere Kunstschaffende. Hierbei berücksichtigt er nicht nur die historische Lage Taiwans gegen Ende der 70er Jahre, sondern auch die veränderten Produktionsbedingungen, welche die Filmschaffenden vorfanden, die sich nicht nur von dem Kino vergangener Generationen distanzieren wollten, sondern auch was die Finanzierung ihrer Projekte anging, einen großen Wert auf Unabhängigkeit legten. So entsteht das Bild einer verschworenen Gemeinschaft, welche, ähnlich den Regisseuren und Produzenten des New Hollywood, teils sehr eng miteinander arbeiteten und teilweise sogar große Opfer brachten, damit sie selbst oder ihre Kollegen ein Filmprojekt finanziert bekamen. Einige von ihnen sahen sich gar gezwungen, ihr eigenes Haus zu verkaufen, damit ihr Kollege weiterdrehen konnte, oder sie suchten mit ihnen nach geeigneten Finanziers, auch außerhalb ihrer Heimat.
Neben einer Vielzahl von Archivaufnahmen und anderem Material, zeigen die einzelnen Segmente der Dokumentation heutige Filmemacher, Filmwissenschaftler und Autoren, welche über die Wirkung des Taiwan New Cinema Auskunft geben. Neben Regisseuren wie Kiyoshi Kurosawa, Olivier Assayas oder Apichatpong Weerasethakul, deren Werke tief, teils sogar unbewusst geprägt sind von dem Kino eines Edward Yang oder Hou Hsaio-Hsien, nehmen Autoren wie Tony Rayns Stellung zu der Frage nach der Bedeutung des neuen taiwanesischen Kinos. Stark chronologisch begleitet die Dokumentation die ersten internationalen Erfolge auf Festivals und diskutieren, inwiefern sich Werke wie Yi Yi – A One and a Two, Ein Sommer zum Verlieben oder Eine Stadt der Traurigkeit mit dem heutigen, urbanen Taiwan befassen und besonders auf formaler Ebene bis heute überzeugen.
OT: „Flowers of Taipei: Taiwan New Cinema“
Land: Taiwan
Jahr: 2014
Regie: Chinlin Hsieh
Musik: Mark Nelson – Pan American
Kamera: Olivier Marceny
Venedig 2014
International Film Festival Rotterdam 2015
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