Andy Brettschneider (Charly Hübner) hat es geschafft! 30 Jahre ist es her, dass er seine Heimat in Ostdeutschland hinter sich gelassen hat, um im Westen Karriere zu machen. Inzwischen arbeitet er als Investmentbanker und hat sich dabei ein kleines Vermögen aufgebaut. Mit seiner Vergangenheit und seiner Herkunft hat er abgeschlossen, so dachte er zumindest. Doch dann taucht eines Tages ein anonymes Schreiben auf, das ihm vorwirft im Sommer 1990 ein Mädchen vergewaltigt zu haben. Auch wenn Andy alles vehement abstreitet, sowohl bei der Arbeit wie auch in seinem privaten Umfeld kommen Zweifel auf. Und so beschließt er, noch einmal die Reise in die alte Heimat anzutreten, die Leute von damals zu besuchen und so die Wahrheit hinter dem Brief herauszufinden …
Zurück in die alte Heimat
In Filmen ist es ein immer wieder gern genutztes Motiv: Der Protagonist oder die Protagonistin ist aufgrund eines äußeren Ereignisses dazu gezwungen, noch einmal in die alte Heimat zurückzukehren und sich dort dann der Vergangenheit zu stellen. Die Anlässe dafür können vielfältiger Natur sein, vom Todesfall über Hochzeiten bis zu Krankheit oder Abifeier ist da alles dabei. Für immer Sommer 90 führt diese beliebte filmische Tradition fort und ist dabei doch nur bedingt mit Werken wie Manchester by the Sea oder Die Familienfeier zu vergleichen, bei denen unterdrückte Gefühle und alte Verletzungen wieder ans Tageslicht kommen. Das geschieht hier zwar auch, aber auf eine etwas andere Weise.
Ein bedeutender Unterschied ist natürlich der, dass sich hier die Hauptfigur mit einem ungeheuerlichen Vorwurf konfrontiert sieht. Jemanden vergewaltigt haben zu sollen, das ist schon ein heftiger Stoff. Er sorgt auch dafür, dass es von Anfang an eine gewisse Distanz zu Andy gibt. Während man normalerweise bei einer solchen Geschichte mit der Figur ein gewisses Mitgefühl hat, wenn diese sich vieler Dinge klar wird, da weiß man hier nicht so recht, wie man sich positionieren soll. Sollte man hier für den Beschuldigten sein und ihm die Daumen drücken, dass er die Vorwürfe aus dem Weg räumt? Sollte man die Vorwürfe als real akzeptieren, ganz im Sinne von #MeToo, und darauf hoffen, dass er seine gerechte Strafe bekommt?
Kompliziert ist das nicht nur, weil das Regieduo Lars Jessen (Der letzte Cowboy) und Jan Georg Schütte, das zusammen mit Hauptdarsteller Charly Hübner auch am Drehbuch gesessen hat, lange Zeit offen lässt, was denn wirklich vorgefallen ist. Für immer Sommer 90 hat da durchaus etwas von einem Krimi, wenn Andy nach der Verfasserin des Briefes sucht und mühselig alte, verblasste Puzzleteile zusammensetzt. Hinzu kommt, dass Andy nicht unbedingt ein Sympathieträger ist. Im Gegenteil: Er fängt schon grauenvoll an und wird mit der Zeit immer widerlicher, wenn er alte Freunde und Freundinnen ausnutzt, Leute zur Seite schubst, sich über alles und jeden hinwegsetzt. Bei so jemandem wäre es einfacher, wenn er tatsächlich schuldig wäre.
Zwischen Flucht und Enttäuschung
Eine noch größere Überraschung ist die, dass die Schuldfrage bei Für immer Sommer 90 zwar der Anlass für die Reise ist, dabei aber gar nicht mal unbedingt im Mittelpunkt steht. Stattdessen erzählt das Team von Ost-West-Konflikten, von der Aufbruchstimmung während eines magischen Sommers, von dem nicht viel übrig geblieben ist. Die diversen alten Weggefährten und Freundinnen, denen Andy im Laufe seines Trips begegnet, sind Gefangene eines Traums, der nie in Erfüllung gegangen ist, sind auch geprägt von den Enttäuschungen, welche die Welt und die anderen mit sich brachten. Auch wenn der Film zwischendurch immer mal wieder Genreanleihen hat, zwischen Krimi und Thriller, so ist er doch auch ein bitteres Porträt von Menschen, die Jahrzehnte später immer noch nicht so wirklich weitergekommen sind. Nur Andy ist die Flucht geglückt, doch der Preis war hoch.
Dass man nicht immer ganz schlau aus allem wird, aus Andy, aus den Leuten, denen er begegnet, sogar aus dem Film selbst, hängt auch mit seiner Entstehung zusammen. Genauer waren im Vorfeld nur grobe Eckpfeiler vorgegeben, der Rest wurde unterwegs improvisiert. Eine Zeit lang wurde das vor einigen Jahren von einigen Filmemachern gezielt eingesetzt, um näher am Alltag zu sein. Bei Für immer Sommer 90 sorgt das eher für Verfremdungseffekte, wenn Gespräche im Zickzackkurs verlaufen, man die einzelnen Sprünge nicht immer nachvollziehen kann. Ob das der Geschichte wirklich geholfen hat oder ob mit einem traditionellen Drehbuch und einem stärkeren Fokus nicht mehr gewonnen wäre, darüber kann man sich streiten. Aber auch so ist der Roadmovie ein interessantes Experiment, voller leiser und lauter Töne, ein melancholischer Rückblick auf das, was einmal war, von dem gar nicht ganz klar ist: War das jetzt gut oder schlecht?
OT: „Für immer Sommer 90“
Land: Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Jan Georg Schütte, Lars Jessen
Drehbuch: Charly Hübner, Lars Jessen, Jan Georg Schütte
Musik: Jakob Ilja
Kamera: Moritz Schultheiß
Besetzung: Charly Hübner, Lisa Maria Potthoff, Walfriede Schmitt, Deborah Kaufmann, Roman Knižka, Christina Große, Stefanie Stappenbeck, Karoline Schuch, Peter Schneider
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