Mindestens eine Sekunde

Mindestens eine Sekunde

Kritik

Mindestens eine SekundeEigentlich hätte es Paris sein sollen, doch nach einer Absage der dortigen Kunsthochschule erhält die 24-jährige Agnieszka einen Studienplatz in Krakau an einer ebenfalls angesehen Hochschule für Kunst. Während ihre Tochter sich bereit macht für das erste Semester, ist ihre Mutter noch skeptisch, wanderte sie doch einst aus Polen aus, um ein neues Leben in Deutschland zu beginnen. In der Zwischenzeit hat Agnieszka in Jolanda eine alte Schulbekanntschaft in Krakau angetroffen, die ebenfalls an die Kunsthochschule geht. Auch die ersten Kurse haben begonnen, doch für die junge Frau ist es gar nicht so leicht mitzuhalten, denn ihre Kommilitonen sind nicht nur ebenso kreativ wie sie, auch ihre Kritik an den Projekten der anderen ist äußerst scharf, ebenso wie die ihrer Dozenten, die sie endlich dazu bringen wollen „die Kontrolle loszulassen“. Als Agnieszka unter dem Leistungsdruck zu zerbrechen droht, zeigt ihr Jolanda im Nachtleben der polnischen Stadt, dem Alkohol und den Drogen einen kleinen Ausweg aus dem Alltag an der Uni. Doch was für ihre Freundin nur ein gelegentliches Vergnügen ist, wird für Agnieszka zu einer Sucht, auf dem langen Weg sich zu beweisen und endlich erwachsen zu werden.

Einfach loslassen

Mit Mindestens eine Sekunde und höchstens ein ganzes Leben, so der vollständige Titel der Comic-Novelle, legte die Autorin und Illustratorin Paulina Stulin 2014 ihren ersten Comic vor. Erzählt wird von einem Prozess des Wachstums, als Mensch wie auch als Künstlerin, aber auch der Begegnung mit der Mutter und deren Geschichte, die eng mit den beiden „Heimaten“ Deutschland und Polen verknüpft ist. Darin verknüpft sind Themen wie Drogen, Freundschaft und das Finden einer eigenen Stimme, im Leben wie auch in der Kunst.

Wie schon in unzähligen Geschichten steht am Anfang der Aufbruch, doch es wird nicht der letzte sein, den die Protagonistin hinter sich bringen muss. Erzählt wird ein Auszug aus ihrem Leben, unterbrochen von Auszügen aus dem Leben der Mutter in Deutschland, die sich, ausgelöst von der Abwesenheit ihrer Tochter und deren Studium in Krakau, mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzt. Wenn auch der Kontext in einigen Details nicht ganz passt, so schafft es Stulin mit dieser Parallelstellung zweier Geschichten einen großen Bogen zu spannen, über den sich Mutter und Tochter, trotz der Distanz zwischen ihnen, immer weiter annähern und mehr Verständnis füreinander haben. Innerhalb dieses Narratives verknüpft die Autorin dies mit prägenden Momenten, Metaphern eines Prozesses des Wachstums, der für beide noch nicht ganz abgeschlossen ist, dessen Ausmaß sich aber gerade bei Agnieszka bemerkbar macht.

Zentral ist das Credo eines Dozenten „einfach loszulassen“, wie er es seiner neuen Schülerin bei der ersten Sichtung ihrer Arbeit mitteilt. Während des Zeichnens treibt er sie weiter an, nicht so kontrolliert zu sein und sich hinzugeben – eine Szene, die sinnbildlich für vieles steht, was Stulins Hauptfigur durchmachen muss. Sensibel und immer humorvoll erzählen die Bilder in Mindestens eine Sekunde davon, wie einfach ein solcher Befehl sein mag, aber wie schwierig er durchzuführen ist, besonders auf ein ganzes Leben bezogen.

Aufräumen und aufwühlen

Wie in ihren weiteren Werken, The Right Here Right Now Thing und Bei mir zuhause sind es nicht nur die Dialoge, sondern vor allem die stillen Momente, in denen sich das Talent Stulins zeigt. Nicht unähnlich der Logik des Close-ups oder der Detailaufnahmen beim Film konzentriert sich das Bild auf einen Moment, eine Geschichte in einem Bild oder nur wenigen, in denen man die Zweifel der Figuren erlebt, aber auch die Sekunden der Klarheit oder eben jene der Aufgabe, nach denen man doch dann wieder zu einem Beutel Speed greift, weil das Leben einfach gerade nicht so will wie man selbst.

Schlussendlich sind es diese Eigenschaften, die einem Leser die Figuren Stulins und ihre Bilder so nahebringen. Es sind Menschen mit Fehlern und Stärken, die schrecklich dumme Dinge tun, aber dann auch wieder „aufräumen und aufwühlen“ können und nicht den Mut verlieren, sich neu zu erfinden.

Credits

OT: „Mindestens eine Sekunde“
Land: Deutschland
Jahr: 2014
Texte: Paulina Stutlin
Zeichnung: Paulina Stulin



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„Mindestens eine Sekunde“ ist eine einfühlsam erzähle und illustriere Geschichte über Heimat, Erwachsenenwerden und das Finden der eigenen Stimme als Künstlerin wie auch als Mensch. Paulina Stulin gelingt eine oft bewegende, aber auch sehr humorvolle Geschichte über einen entscheidenden Moment im Leben ihrer Figuren, dem man als Leser gerne folgt und man traurig ist, wenn er zu Ende ist.
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