Einer überlieferten Sage nach war es Paikea, der einst auf einem Wal das Meer überquert und das Dorf im heutigen Neuseeland gegründet haben soll. Seit dieser Zeit wird sein Name von den Bewohnern Whangaras von Generation zu Generation weitergegeben. Ein Nachfolger war auch bereits auserkoren, wie immer sollte der erstgeborene männliche Nachkomme es sein. Doch der Junge starb zusammen mit der Mutter bei der Geburt, nur die zeitgleich geborene Zwillingsschwester überlebte. Inzwischen ist Paikea (Keisha Castle-Hughes) zwölf Jahre alt, der Vater (Cliff Curtis) lebt in Deutschland und hat die Vergangenheit hinter sich gelassen. Und so liegt es an den Großeltern Koro (Rawiri Paratene) und Nanny Flowers (Vicky Haughton), sich um das Kind zu kümmern. Für den Koro, der sich um den Verlust der Traditionen sorgt, ist das jedoch kaum erträglich. Immer wieder lässt er seine Enkelin spüren, wie wütend ihn der Bruch mit den Bräuchen macht …
Hauptsache anders?
Es gehört ein wenig zum Aufwachsen dazu, dass man erst einmal das ablehnt, was einem die Eltern hinterlassen haben. Eine Rebellion gegen die Normen, eine Infragestellung dessen, was immer als richtig galt, das ist Teil der Jugend. Denn woher soll man wissen, wer man ist, wenn man nicht zuvor die Grenzen ausgetestet hat? Whale Rider ist die Geschichte einer solchen Rebellion. Sie geschieht allerdings nicht aus dem Wunsch der Konfrontation heraus. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer Intuition, was richtig ist. Und sie ist das Ergebnis von Liebe und der Sehnsucht nach Anerkennung. Wenn Paikea die Überzeugungen ihres Großvaters herausfordert, dann nicht weil sie es will. Sie muss es tun, da es für sie keinen anderen Weg gibt.
Das macht Whale Rider von Anfang an zu einer sehr emotionalen und tragischen Geschichte. Paikea, von allen nur Pai genannt, hat ihre Mutter und ihren Zwillingsbruder verloren. Ihr Vater hat das Land verlassen und führt nun ein eigenes Leben am anderen Ende der Welt. Und von dem Großvater gibt es die ganze Zeit nur Vorwürfe, obwohl das Mädchen selbst nichts getan hat. Gleichzeitig lässt Regisseurin und Drehbuchautorin Niki Caro (Mulan, Die Frau des Zoodirektors) keinen Zweifel daran, dass Koro nicht aus reiner Böswilligkeit handelt. Vielmehr ist er mit den Traditionen aufgewachsen, die ihm alles bedeuten, die Teil eines Selbstverständnisses sind und dabei nun Gefahr laufen verloren zu gehen.
Whale Rider ist deshalb auch ein zunächst ambivalenter Film. Wenn Koro auf den Traditionen besteht, dann steht das stellvertretend für viele indigene Völker, deren Kulturen mit der Zeit durch Kolonisten verdrängt wurden. Für den Kampf, eine eigene Identität zu bewahren, trotz des Drucks der dominanten Mehrheit. Auf der einen Seite vermittelt das neuseeländische Drama daher, wie schwerwiegend der Verlust der Māori-Kultur wäre und wie gefährlich es ist, wenn der Zusammenhalt schwindet. Gleichzeitig wird aber auch die Frage gestellt: Was macht die Kultur eigentlich aus? Wie können wir sie an eine sich verändernde Gesellschaft anpassen, ohne sie dabei zu verraten? Gerade der Zwang, dass an der Spitze ein Mann stehen muss, ist in einer Welt, die sich langsam aus den patriarchischen Fesseln befreit, ein Relikt vergangener Zeiten.
Die Magie des Alltags
Dennoch ist Whale Rider kein Film, der offensiv für Feminismus wirbt und mit erhobenem Zeigefinger das Publikum maßregelt. Er macht das lieber mit ein bisschen Humor in Gestalt der Großmutter, die ihrem Mann die Illusion der Überlegenheit lässt. Und er macht es mit Magie: Die Adaption eines Romans von Witi Ihimaera beginnt zwar als realistisches Coming-of-Age-Drama, nimmt mit der Zeit aber immer mehr märchenhafte Züge an. Caro nimmt die spirituellen Grundgedanken der Māori-Sagenwelt dankend an und baut sie natürlich in ihre Geschichte ein. Das setzt jedoch klar voraus, dass man als Zuschauer bzw. Zuschauerin empfänglich ist für eine Welt jenseits des Rationalen und dabei nicht gleich mit den Augen rollt. Ansonsten könnte man gerade von späteren Szenen irritiert sein.
Wer sich aber darauf einlassen kann, der sieht hier einen in vielfacher Hinsicht schönen, versöhnlich stimmenden Film, der sowohl für das Herz wie auch das Auge einiges bietet. Gerade die Aufnahmen des Meeres, zu dem sich Pai hingezogen fühlt, wecken schnell die Sehnsucht zu einer Natur und Ursprünglichkeit, wie wir sie nur noch selten erleben. Whale Rider hält dabei die Waage zwischen lokaler Folklore und einer für alle offenen Universalität. Dass trotz esoterischer Anwandlungen das Drama so zugänglich ist, ist dabei auch ein Verdienst des Ensembles. Vor allem Newcomerin Keisha Castle-Hughes, die als 13-Jährige hierfür eine Oscar-Nominierung als beste Hauptdarstellerin erhielt und damit einen Rekord aufstellte, war seinerzeit eine echte Entdeckung: In ihrem Debüt sprühte sie vor Lebensfreude, brachte aber auch die notwendige Tiefe mit, um der Geschichte Gewicht zu verleihen.
OT: „Whale Rider“
Land: Neuseeland, Deutschland
Jahr: 2002
Regie: Niki Caro
Drehbuch: Niki Caro
Vorlage: Witi Ihimaera
Musik: Lisa Gerrard
Kamera: Leon Narbey
Besetzung: Keisha Castle-Hughes, Rawiri Paratene, Vicky Haughton, Cliff Curtis, Grant Roa, Mana Taumaunu
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
Academy Awards | 2004 | Beste Hauptdarstellerin | Keisha Castle-Hughes | Nominierung |
BAFTA Awards | 2003 | Bester Kinderfilm | Sieg | |
Film Indepedent Spirit Awards | 2004 | Bester ausländischer Film | Sieg |
Toronto International Film Festival 2002
Sundance Film Festival 2003
International Film Festival Rotterdam 2003
Tribeca Film Festival 2003
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