Man mag von dem Netflix-Trend der True Crime Dokus, welche mit realen Verbrechen und Tragödien Kasse machen, halten, was man will. Eines muss man dem Streaminggiganten zugestehen: Die thematische Vielfalt ist beachtlich. Zuerst arbeitete er dieses Jahr in Crack: Kokain, Korruption und Konspiration die Drogenepidemie in den USA der 1980er auf, inklusive fragwürdiger politischer Reaktionen und systematischen Rassismus’. Danach erinnerte man in Night Stalker: Auf der Jagd nach einem Serienmörder an die grausamen Taten eines Killers und die Atmosphäre der Angst, welche dieser ebenfalls in den 1980ern erzeugte.
Nun steht mit Verschwunden: Tatort Cecil Hotel die dritte größere True Crime Doku dieses Jahr an. Anders als bei den beiden obigen Titeln, die sich mit einer ganzen Reihe von Verbrechen bzw. Kriminalität als solcher beschäftigten, steht hier ein einziger Fall im Mittelpunkt: Die kanadische Touristin Elisa Lam war Anfang 2013 in dem Cecil Hotel in Los Angeles zu Gast, wo sie eines Tages spurlos verschwand. Einige Wochen später wurde die Leiche der 21-Jährigen über Umwege gefunden. Doch der Ort und die Umstände gaben Rätsel auf, die zunächst niemand beantworten konnte, weder im Hotel noch bei der Polizei. Und wo es Rätsel gibt, da gibt es auch immer Leute, die sich dazu berufen fühlen, diese zu lösen.
Wenig Anhaltspunkte
Tatsächlich befasst sich der in dem Bereich erfahrene Regisseur Joe Berlinger (Ted Bundy: Selbstporträt eines Serienmörders) in Verschwunden: Tatort Cecil Hotel nur zu einem erstaunlich geringen Teil mit dem Fall an sich. Zu dem gab es schließlich wenig zu sagen: Eine nur etwas mehr als zwei Minuten lange Aufnahme von Lam, wie sie in einem Fahrstuhl hektisch alle möglichen Knöpfe drückt, die letzte Aufnahme vor ihrem Tod, war einer der wenigen Hinweise. Ansonsten kannte vor Ort niemand die Touristin, keiner hatte Zeit mit ihr verbracht und konnte etwas zu dem Fall beitragen. Recherchen vor Ort waren ebenfalls nur eingeschränkt möglich. Archivaufnahmen liegen ebenfalls keine vor. Als Stoff für eine Doku ist das nicht sehr viel.
Also erzählt Berlinger sehr viel drumherum. Zunächst lässt er sich einige Zeit, um das Cecil Hotel als solches vorzustellen sowie dessen Umgebung, das für seine vielen Obdachlosen bekannte Viertel Skid Row. Vor allem aber kommt in Verschwunden: Tatort Cecil Hotel zur Sprache, wie aus dem Fall ein Internetphänomen wurde. Im ganzen Land meldeten sich Menschen zu Wort, die ihre eigenen Theorien mitteilten, stellten Spekulationen auf. Es gab eine regelrechte Community, die sich mit den waghalsigsten Erklärungen gegenseitig überbot. Von einem regulären Sexualverbrechen bis zu geheimen Regierungsexperimenten war alles dabei, sogar Verbindungen zu dem japanischen übernatürlichen Horrorfilm Dark Waters wurden aufgestellt.
Die Dynamik des Internets
Tauchen diese Laienkriminologen anfangs nur sporadisch auf, gewinnt dieser Teil irgendwann eine gewaltige Eigendynamik. Verschwunden: Tatort Cecil Hotel ist, ähnlich zum Netflix-Kollegen Don’t F**k with Cats – Die Jagd nach einem Internet-Killer, weniger reguläre True Crime Doku, sondern vielmehr Einblick in die Internetkultur, in parallele gesellschaftliche Strukturen und sich selbst verstärkende Echo Chambers. Anders als der genannte Titel, wo die moralische Verantwortung von Usern nur angedeutet wurde, zeigt Berlinger auf, wie gefährlich ein solches Phänomen selbstbestimmter Wahrheiten sein kann. Manche Spekulationen und Hinweise sind verblüffend, gerade bei Zufälligkeiten. An anderen Stellen wird es hingegen geradezu verstörend.
Ob man sich das als Fan von True Crime Dokus anschauen sollte, darüber kann man sich deshalb streiten. Während das Setting nach wie vor sehr atmosphärisch ist und die Geschichte noch immer Fragen aufwirft, sind die Antworten eher dünn. Verschwunden: Tatort Cecil Hotel hat auch über die Verschwundene selbst relativ wenig zu sagen. Wer solche Titel des Informationsgehaltes wegen anschaut, für den ist das hier daher etwas dünn. Wie bei so vielen Netflix-Produktionen wird der Stoff zu sehr in die Länge gezogen, eine reißerische Inszenierung soll über den mangelnden Inhalt hinwegtäuschen. Interessant ist die vierteilige Miniserie aber durchaus, gerade für ein Publikum, das den Fall nicht kennt. Der anfängliche Mystery-Faktor ist geschickt aufgebaut, zudem gibt es diverse Denkanstöße zum Thema Verantwortung, im realen wie im virtuellen Raum, prangert eine Oberflächlichkeit in der Gesellschaft, die den Einzelnen nicht gerecht wird.
OT: „Crime Scene: The Vanishing at the Cecil Hotel“
Land: Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Joe Berlinger
Musik: Wendy Blackstone
Kamera: Jeff Hutchens
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)