Im östlichen Teil Anatolien, im Herzen der Berge befindet sich das Internat, auf welches Yusuf (Samet Yildiz) und sein bester Freund Memo (Nurullah Alaca) gehen. Die Schule unter der Leitung des Direktors (Mahir Ipek) ist sehr strikt organisiert und jede Form des Ungehorsams wird sofort hart bestraft, entweder vom Leiter selbst oder von den vielen Lehrern, die nicht nur den Unterricht gestalten, sondern zudem die Schüler überwachen, beispielsweise während der Mahlzeiten. Als Memo sich mit ein paar Klassenkameraden bei der wöchentlichen Dusche streitet, eilt schon nach wenigen Momenten der Lehrer herbei, befiehlt für die drei Jungen das warme Wasser abzudrehen und sieht dabei zu, wie sich mit kaltem Wasser waschen. Gerade aufgrund der frostigen Temperaturen draußen wird dies von den anderen Schülern als eine sehr harte Strafe empfunden, aber keiner wagt es – aus Furcht, man könne dasselbe Schicksal erleiden – zu protestieren.
Am nächsten Morgen versucht Yusuf Memo zum Aufstehen zu bewegen, doch sein Freund ist völlig erschöpft und blass. Schließlich informiert Yusuf seinen Lehrer, der ihm aufträgt, Memo auf die Krankenstation zu schicken, wo dieser eine Schmerztablette erhält und sich auf der Liege weiter ausruht. Als Yusuf in der Pause nach seinem Freund sieht, ist dieser nach wie vor krank und mittlerweile nicht mehr ansprechbar, sodass Yusuf voller Sorge abermals seinen Lehrer informiert. Schließlich muss sogar der Direktor mit dazu kommen, scheint der Zustand des Jungen doch sehr ernst zu sein, was noch verschlimmert wird durch das Wetter, das es unmöglich macht für sie mit ihren Autos in die Stadt und damit zum Krankenhaus zu fahren. Während die Lehrer anfangen, sich gegenseitig die Schuld für den Zustand des Jungen in die Schuhe zu schieben, hofft Yusuf auf Rettung für seinen Freund und bleibt an seinem Krankenbett.
Wertvolle Mitglieder der Gesellschaft
Ein politisches System darzustellen oder gar zu kritisieren, insbesondere, wenn es sich durch vielfältige Formen der Repression definiert, ist oft ein heikles Unterfangen. Dennoch traut sich der türkische Regisseur Ferit Karahan in seinem nunmehr vierten Spielfilm Brother’s Keeper, welcher auf der diesjährigen Berlinale zu sehen ist, an eine solche Geschichte heran, die an der Oberfläche als das Drama um das Leben eines Jungen gelesen werden kann, sich aber bei genauem Hinsehen als eine recht düstere Bestandsaufnahme eines politischen Systems entpuppt, das viele Parallelen zu der heutigen Türkei und ihrer politisch-gesellschaftlichen Landschaft aufweist.
Sowohl in der Realität wie auch in fiktionalen Szenarien sind Schulen in gewisser Weise eine Spiegelung der Gesellschaft gewesen. Was aber in den deutschen Pauker-Filmen wie Die Lümmel von der ersten Bank noch eine herrlich alberne Komödie auf den Generationenkonflikt dieser Zeit war, ist im Falle von Brother’s Keeper bereits nach den ersten Minuten sehr ungemütlich, sodass man die Atmosphäre von Angst und Unterdrückung bereits spüren kann. Die Intention aus den kurdischen Schülern „wertvolle Mitglieder der Gesellschaft“, wie der Direktor vollmundig verkündet, zu machen, verlangt Gehorsam und Folgsamkeit, eine absolute Treue „nationaler Ideale“, die über dem Einzelnen stehen, welcher aber in seinem Wesen und Handeln eben diese repräsentieren soll. Mit einem fast schon dokumentarischen Blick fängt Karahan diesen Mikrokosmos und seine einzelnen Mitglieder ein und scheint der Frage nachzugehen, was denn nun diese „Werte“ sind, von denen der Direktor gesprochen hat.
Das System im Kleinformat
Die statischen Aufnahmen wie auch der omnipräsente Schnee, der im Laufe der Handlung immer dichter zu werden scheint, betonen den Eindruck eines hermetischen Systems, welches sich von der Außenwelt isoliert hat und auf Autonomie pocht. Türksoy Gölebeyis Bilder und die Inszenierung Karahans zeigen aber auch nach wenigen Minuten schon die ersten Risse, die Widersprüche und die Scheinheiligkeiten dieses System, wenn es die Lehrer beispielsweise nicht so genau nehmen mit den Regeln an der Schule und der Direktor seine Verantwortung als Vorbild recht frei interpretiert, abhängig von der Situation. Die Hierarchie, so stellt es sich dem Zuschauer dar, ist klar formuliert, aber es krankt an allen Ecken und Enden, wenn es noch nicht einmal für seine Schwächsten, in diesem Falle den kranken Memo sorgen kann und sich in einem wilden Streit darum, wer die Schuld an der Misere trägt, verliert.
Jedoch ist Karahan nicht nur an der Abbildung dieses Systems interessiert, sondern auch an der Frage, wie es denn um die menschlichen Werte bestellt ist oder inwiefern die politische Repression ihrer Mitglieder formt. In der Hauptrolle liefert daher gerade Samet Yildiz als Yusuf eine tolle Leistung, die sich nicht in großer Emotionalität nach außen zeigt, aber seine zunehmende Sorge um den kranken Freund zeigt und die Frustration aufgrund der eigenen Hilflosigkeit, während sich die Herren an der Spitze lieber selbst zerfleischen, anstatt ihm oder Memo zu helfen.
OT: „Okul Tıraşı“
Land: Türkei, Rumänien
Jahr: 2021
Regie: Ferit Karahan
Drehbuch: Güllistan Acet, Ferit Karahan
Kamera: Türksoy Gölebeyi
Besetzung: Samet Yildiz, Nurullah Alaca, Mahir Ipek, Cansu Firinci, Melih Selcuk, Münir Can Cindoruk, Dilan Parlak
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