Die Lage ist ernst, nur mit Mühe und Not kommen Bea (Thaddea Graham) und ihre Schwester Jessie (Darci Shaw) irgendwie über die Runden. Das Geld ist knapp. Zu knapp, um noch die Miete für das schäbige Loch bezahlen zu können, in dem sie zusammen mit Billy (Jojo Macari) und Spike (McKell David) hausen. Und so nehmen sie das Angebot des mysteriösen Dr. Watson (Royce Pierreson) an, eine Reihe rätselhafter Babyentführungen zu untersuchen, die sich in London zugetragen haben. Während sie gemeinsam mit dem verkleideten Königssohn Leopold (Harrison Osterfield) Nachforschungen betreiben, ahnen sie, dass an der Geschichte deutlich mehr dran sein muss, als ihnen Watson verraten hat. Wer ist beispielsweise dieser Sherlock Holmes (Henry Lloyd-Hughes), von dem die Rede ist? Und was hat es mit den verstörenden Visionen auf sich, unter denen Jessie zunehmend leidet?
Randfiguren an die Front
Auch mehr als hundert Jahre nach deren Hochphase haben die Kriminalgeschichten von Arthur Conan Doyle rund um den Meisterdetektiv Sherlock Holmes Hochkonjunktur. Aus gutem Grund. Nicht nur, dass die Figur derart ikonisch ist, dass sie mit nur wenigen Pinselstrichen für alle erkennbar ist. Die meisten Geschichten stehen inzwischen auch ohne Urheberrecht jedem zur Verfügung, der sie irgendwie verwenden will. Kein Wunder also, dass es inzwischen die wildesten Interpretationen der klassischen Stoffe gibt. Sherlock transportierte die Werke in die Neuzeit, bei Enola Holmes durfte die jüngere Schwester des Genies zeigen, dass sie ihrem berühmten Bruder nicht wirklich nachsteht. Doch so unterschiedlich die Fassungen zuletzt waren, als Gemeinsamkeit blieben die Figuren. Das bedeutete neben Holmes selbst und dessen treuen Freund Dr. Watson vor allem Charaktere wie Inspektor Lestrade, Gegenspieler Moriarty und die Vermieterin Mrs. Hudson.
In der Netflix-Serie Die Bande aus der Baker Street rücken nun ein paar andere Figuren aus Arthur Conan Doyles Geschichten in den Mittelpunkt, die oft kaum Beachtung fanden. Und das völlig beabsichtigt: Die Straßenkinder, welche auch den Originaltitel The Irregulars bilden, sollen nicht beachtet werden. Zu diesem Zweck schickte Holmes die Jungen und Mädchen los, um in seinem Auftrag Hinweise auf den Straßen Londons zu sammeln. Denn wer würde solche in Lumpen gekleidete Gestalten schon ernst nehmen? Hier einen Perspektivwechsel vorzunehmen und die Fälle aus deren Blickwinkel zu erzählen, das klang im Vorfeld nach einer interessanten Idee. Weg von den vornehmen Kreisen, hinab in den Dreck der Ausgestoßenen der Gesellschaft – das brachte jede Menge Potenzial, Krimi mit Sozialdrama zu verbinden.
Von allem etwas
Am Ende wurde aber etwas ganz anderes daraus. Etwas, von dem man gar nicht so genau sagen kann, was das sein soll oder will. Die größte Irritation ist dabei gar nicht, wie unwichtig Sherlock Holmes in diesen Geschichten ist. Tatsächlich taucht er ab der Hälfte der ersten Staffel überhaupt erst auf. Und selbst dann dauert es eine Weile, bis da wirkliche Verbindungen aufgebaut werden. Die restliche Zeit besteht das von Tom Bidwell entwickelte Die Bande aus der Baker Street aus einer Ansammlung paranormaler Ereignisse, wenn nach dem Monster-of-the-Week-Prinzip die fünf immer neuen Rätseln auf der Spur sind. Zwar wird schon früh angedeutet, dass diese Vorfälle in einem Zusammenhang stehen. Doch auch in der Hinsicht ließ man sich Zeit, die vor allem für viel Drama draufgeht.
Das Ergebnis ist recht gemischt. An manchen Stellen zeigt sich, dass das Konzept tatsächlich Potenzial gehabt hätte. Die Geschichte um eine Gestaltwandlerin beispielsweise bringt tatsächlich die verschiedenen Genres, die hier gemixt werden, auf interessante Weise zusammen. Auch der Fall um eine Frau, die Zähnen ganz neue Eigenschaften entlockt, ist es wert gesehen zu werden. Doch dazwischen gibt es leider sehr viel 08/15-Stoff, der weder dem Szenario, noch der Vorlage gerecht wird. Die Bande aus der Baker Street ist dann in erster Linie ein auf düster gemachtes Teeniedrama, das sich für die eigentliche Detektivarbeit kaum noch interessiert. Die fünf rennen dann zwar ständig durch die Gegend, begegnen dabei finsteren und tragischen Gestalten. Als Krimi ist das aber kaum zu gebrauchen, dafür fehlt die eigentliche Denkarbeit.
Vergeudetes Potenzial
Die Serie ist deshalb weniger für ein Publikum gedacht oder auch zu empfehlen, welche den Namen Holmes, selbst wenn er nur manchmal fällt, mit Spürsinn und Kombinationsgabe verbindet. Holmes ist ohnehin kaum wiederzuerkennen. Sein Hang zur Drogensucht, welchen es bereits im Original gab, wurde hier richtig zur Schau gestellt. Aus dem meist vornehmen, fokussierten Nobelmann wurde ein Wrack, das nicht einmal die eigene Blase noch unter Kontrolle hat. Auch das hätte interessant sein können, wenn die Hässlichkeit dieser Abgründe tatsächlich angenommen worden wäre. Doch die beschränkt sich meist auf die Fassade: Selbst der Abfall der Straße muss hier noch einen gewissen Chic behalten, was die Grundidee ad absurdum führt. Das ist dann zwar nicht die Katastrophe, als die die Serie derzeit von einigen dargestellt wird. Im Netflix Fantasy-Jugenddrama-Bereich gibt es deutlich Schlimmeres. Ärgerlich ist es aber schon, wie wenig Die Bande aus der Baker Street aus der eigenen Prämisse herausholt.
OT: „The Irregulars“
Land: UK
Jahr: 2021
Regie: Johnny Allan, Joss Agnew, Weronika Tofilska
Drehbuch: Tom Bidwell, Sarah Simmonds
Idee: Tom Bidwell
Vorlage: Arthur Conan Doyle
Musik: Paul Haslinger
Kamera: Nick Dance, Laurens De Geyter, Tony Miller
Besetzung: Thaddea Graham, McKell David, Jojo Macari, Harrison Osterfield, Darci Shaw, Clarke Peters, Royce Pierreson, Henry Lloyd-Hughes
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