Schon seit Tagen ist Cabir (Ali Suliman) auf der Flucht und versucht nun, über die Türkei nach Griechenland und damit nach Europa überzusetzen. Jedoch wird seine Gruppe von Soldaten überrascht und dem jungen Syrer gelingt nur mit Mühe und Not die Flucht in die Wälder. Als er während der Suche nach etwas Essbarem von einem Mann entdeckt wird, kommt es zu einem Handgemenge und Cabir erschlägt seinen Gegner mit einem Stein. Verstört, erschöpft und ausgehungert erreicht er schließlich den Bauernhof, der von der jungen Türkin Aliye (Jale Arikan) und ihrem Mann betrieben wird. Zunächst will auch sie Cabir vertreiben, ist sie doch schon in genug Schwierigkeiten im Dorf. Als die jedoch den Zustand des Flüchtlings bemerkt, gewährt sie ihm für ein paar Tage Unterschlupf.
Während Cabir sich ausruht, versorgt ihn Aliye mit Medizin und Essen, sodass er schnell wieder zu Kräften kommt. Immer wieder wird er jedoch von Alpträumen geplagt, in denen er jenem Mann begegnet, den er im Wald erschlagen hat. Als er wieder zu sich kommt, erkennt er in einem Foto den Mann wieder, der sich als verschwundener Aliyes Ehemann herausstellt. Für Cabir ist völlig klar, dass er um jeden Preis fliehen muss, doch da er nun weiß, was er getan hat und welche Schuld er hat, ist dies für ihn nicht mehr so einfach. Auch Aliye, die so lange einsam war, lässt ihn nur zögerlich Vorbereitungen für seinen erneuten Fluchtversuch nach Europa treffen.
Hauptsache weg
In seinem 2016 entstandenen Spielfilmdebüt befasst sich der türkische Regisseur Kenan Kavut mit den Träumen von Menschen vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise der 2010er Jahre. Bereits in einer Dokumentation Dream Gang von 2010 zeigte er anhand einer Gruppe von Schatzjägern, deren Suche nach Reichtümern verbunden ist mit der Hoffnung auf ein Gefühl der Erfüllung, wie Träume Menschen antreiben können und was passiert, wenn diese zerplatzen. In Die Flucht führt Kavut dieses Thema weiter, zeigt die Einsamkeit und die Isolation der Flucht, wobei er dies verbindet mit dem Drama zweier Menschen, die für den Rest der Welt unsichtbar geworden sind.
Während der zweite Teil sich vor allem um die Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren dreht und deren Innenleben, sind es im ersten Teil nicht zuletzt die Bilder der Landschaft, welche bei Zuschauer einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Kenan Kavut und Kameramann Florent Henry zeigen die Landschaft, die weiten Felder wie auch die Ufer des Flusses, welchen Cabirs Gruppe ganz zu Anfang überqueren muss, meist in Totalen oder in fast schon quälend langen Sequenzen. Bereits in diesen frühen Einstellungen betont Kavut das Gefühl des Verlorenseins, der Isolation und der Einsamkeit, welche beiden Hauptfiguren gemein ist und zu einem verbindenden Element zwischen ihnen wird. Besonders drastisch sind vor allem die Szenen der Flucht, wenn sich Cabir im Wald versteckt, kaum zur Ruhe kommt und immerzu darum bangen muss, entdeckt zu werden.
In einer langen Konversation, die in gewisser Weise als dramatischer Höhepunkt der Handlung zählen kann, bringt es Cabir auf den Punkt, wenn er davon spricht, nur weg zu wollen. Während viele seiner Landsmänner vor dem Krieg fliehen und sich ein neues Leben in Europa oder irgendwo anders aufbauen wollen, ist die Flucht an sich das Ziel einer Figur wie Cabir. Ali Suliman bringt nicht nur die körperliche Erschöpfung des Charakters, sondern auch dessen Verzweiflung zum Ausdruck angesichts einer Flucht, die eigentlich kein wirkliches Ziel hat und in mancherlei Hinsicht sinnlos erscheint.
Über das Gefühl, unsichtbar zu sein
Vor allem in der Beziehung zu Aliye zeigen sich im Konzept der Flucht noch ganz andere Aspekte. Durch ihre Stellung in der vor allem von Männern dominierten Dorfgemeinde an den Bauernhof gebunden, ist eine Flucht, wie man sehr früh erkennt, nicht möglich. Im Gegensatz zu den bereits erwähnten Totalen, überwiegen fast schon klaustrophobisch anmutenden Innenaufnahmen, wenn der Zuschauer ihr das erste Mal begegnet. Die Begegnung mit Cabir, für dessen Lage sie als Erste Verständnis aufbringt, auch wenn sie sich der Gefahr bewusst ist, unterstreicht ihre eigene Einsamkeit sowie die Lieblosigkeit ihrer Ehe zu einem Mann, der meist durch Abwesenheit glänzt und damit seine eigene Form der Flucht gewählt hat.
Die Vermischung des Flüchtingsdramas mit dem Liebesdrama, was sich zwischen den beiden Hauptfiguren abspielt, inszeniert Kavut als Auseinandersetzung mit Themen wie Schuld und Einsamkeit, dem Gefühl des „Unsichtbar-Seins“, wie es Cabir an einer Stelle auf den Punkt bringt, verbinden sich ihre Leben doch vor allem dadurch, dass sie aufgrund ihrer Stellung für ihre Umwelt nicht zählen oder sie nicht wahrgenommen werden. Hierbei verzichtet Kavut auf das Melodramatische und setzt stattdessen auf stille, atmosphärische Szenen, was der emotionalen Wucht mancher Sequenzen keinen Abbruch tut.
OT: „Kaçis“
Land: Türkei, Deutschland
Jahr: 2016
Regie: Kenan Kavut
Drehbuch: Kenan Kavut
Musik: Antoni Komasa-Lazakiewicz
Kamera: Florent Henry
Besetzung: Jale Arikan, Ali Suliman, Mustafa Avkiran, Muhammes Cangören, Burak Cimen
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