Seit der Erfindung der ersten Kamera und den ersten Aufzeichnungen der Gebrüder Lumière ist das Medium Film verschmolzen mit einer neuen Auseinandersetzung mit unserer Vorstellung von Zeit. Anders als Fotografie oder Malerei konnte nun ein Moment festgehalten werden und im Laufe der Entwicklungen, die das Medium durchmachte, immer wieder vorgeführt, verändert und mit diversen für den Moment wichtigen Aspekten wie Klang und Farbe angereichert oder gar verändert werden. Auch wenn dieser Urmoment des Mediums bisweilen in Vergessenheit gerät und hinter dem Unterhaltungsaspekt verschwindet, setzen sich doch nach wie vor viele Filmemacher mit dieser besonderen Charakteristik auseinander und nutzen Film um etwas festzuhalten, was flüchtig ist oder bald verschwindet, was gerade in der heutigen, immer schneller werdenden Zeit immer wichtiger wird. Nicht nur aufgrund des rasenden Tempos des modernen Lebens, auch durch Klimaerwärmung und Globalisierung ist das Vergessen ein zentraler Punkt unserer Welt geworden, die Lebensstile, Gebräuche oder gar ganze Gemeinden „vergisst“, weil diese durch diverse Prozesse wie Adaption oder Assimilation ein Teil der Vergangenheit werden.
Für ihr Projekt Last Days at Sea, an dem die Regisseurin Venice Atienza bereits seit 2018 arbeitet, spielt der Aspekt des Festhaltens von Zeit und besonderen Momenten eine zentrale Rolle. Auf der diesjährigen Berlinale feiert die Dokumentation, welche bereits in der Projektphase auf dem International Documentary Film Festival Amsterdam mit der Auszeichnung „Most Promising Project“ geehrt wurde, ihre Premiere und erzählt die Geschichte von John Paño, einem Jungen, der mit seiner Familie in der kleinen Gemeinde Karihatag lebt, welche sich auf einer der vielen Inseln der Philippinen befindet. Reyboy, wie der Junge in der Dokumentation genannt wird, und seine Familie leben, wie auch die anderen Mitglieder der Gemeinschaft, vornehmlich vom Fischfang, was durch die industrielle Überfischung in den letzten Jahren immer schwieriger wurde. Die jüngere Generation sucht deswegen immer mehr nach einer Alternative zu dem Leben ihrer Eltern und zieht daher aufs Festland, wo sich auch die Schule befindet, auf die Reyboy bald gehen soll. In Last Days at Sea nähert sich Atienzas Kamera dem Leben in dieser Gemeinde an, zeigt die letzten Tage Reyboys, bevor dieser aufs Festland umsiedeln muss, um dort zur Highschool zu gehen.
Von der einen Schale in die nächste
Eine eigentliche Handlung hat Last Days at Sea nicht zu bieten, konzentriert sich Atienzas Kamera, wie bereist erwähnt, tatsächlich nur auf das Dokumentieren von Momenten. Zusammen mit Reyboy, mit dem sie eine besondere Freundschaft verbindet, schaut sie in den nächtlichen Sternenhimmel und begleitet ihn auf seinen Streifzügen auf der Insel, hört ihm aber auch zu, wenn er beispielsweise von seinen Freunden berichtet, welche schon seit geraumer Zeit auf dem Festland sind und die er nur noch sporadisch sieht. Die einzelnen Momente wie auch die Bilder umgibt das Bewusstsein, dass diese nicht nur einzigartig für den Jungen und die Regisseurin sind, sondern sich wahrscheinlich die Kindheit, wie sie Reyboy und seine kleine Schwester erleben, nicht mehr so stattfinden wird oder sich fundamental ändern wird.
Im Gegensatz zu anderen Dokumentation sind die wirtschaftlichen wie politischen Umstände des Themas im Falle von Last Days at Sea eher am Rande berücksichtigt. Durch den verstärkten Fokus auf individuelle Schicksale und ihre Geschichten betont Atienza die Unwiederbringlichkeit nicht nur dieser Momente im Leben ihres Protagonisten, wenn man ihn so nennen will, sondern unterstreicht, die schleichende Veränderung im Alltag der Gemeinde. Die intensiven, schönen Bilder der Insel tragen immer eine bittere Note, eine tiefe Melancholie, das dieser Moment für die Kamera eingefangen nie mehr wiederkommen wird.
OT: „Last Days at Sea“
Land: Philippinen, Taiwan
Jahr: 2021
Regie: Venice Atienza
Kamera: Venice Atienza, Moshe Ladanga
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