Seit Jahren schon wird Ella Jung (Ricarda Seifried) von ihrem Mann misshandelt. Doch nun ist Schluss: In ihrer Verzweiflung beginnt die junge Frau sich zu wehren und flüchtet anschließend auf die Straße. Dort hilft ihr Monika Keller (Rike Eckermann) weiter, die schon seit Jahren obdachlos ist, gibt ihr einige Ratschläge, wie sie überleben kann. Stattdessen landet sie aber bei Axel Fahl (Niklas Kohrt), der in einem Schnellrestaurant arbeitet und sich dazu bereit erklärt, ihr erst einmal Unterschlupf zu gewähren. Als am nächsten Tag Monika ermordet aufgefunden wird, nehmen Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) die Ermittlungen auf, wofür sie tief in die Obdachlosenszene eintauchen müssen …
Das mörderisch soziale Gewissen
Einfach nur Krimi, das war einmal. Heute wird die gerade in Deutschland so beliebte Abendunterhaltung gern mit dramatischen Themen angereichert, die mal auf dem persönlichen Umfeld der Figuren beruhen, manchmal auch die gesellschaftliche Missstände ansprechen. Gerade der ARD-Dauerbrenner Tatort ist inzwischen dafür bekannt, die klassische Mördersuche mit Milieustudien oder sonstigen Einblicken in das soziale Gefüge dieses Landes zu verbinden. Bei Wie alle anderen auch, die 1160. Folge der Krimireihe, heißt das, mehr über das Leben auf der Straße zu erfahren. Wie kann es sein, dass jemand in einem Sozialstaat dort landet? Was ist vorgefallen, dass jemand komplett durch alle Netze fallen kann?
Das Thema selbst ist zweifelsfrei wichtig, gerade vor dem Hintergrund einer auseinanderbrechenden Gesellschaft und einer immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich. Schon im Dezember gab es mit Unten bereits einen Tatort rund um die Obdachlosigkeit. Während dies dort jedoch auf etwas krude Weise mit einem Verschwörungsthriller kombiniert wurde, da sieht sich Wie alle anderen auch stärker in der Tradition von Sozialdramen. Gerade zu Beginn ist der Kriminalfall daher ein vergleichsweise kleiner Aspekt. Er dient vielmehr als Anlass dafür, dass Ballauf und Schenk durch die Gegend laufen und viele weitere Menschen treffen, die auf der Straße leben, um deren Geschichten zu hören. Vielleicht findet sich darin ja ein Anhaltspunkt, wer es auf die Tote abgesehen hatte.
Zu plakative Anteilnahme
Eine ähnliche Taktik verfolgte Drehbuchautor Jürgen Werner kürzlich bereits in Tatort: Heile Welt, wo soziale Nöte, Rassismus, Fake News und persönliche Probleme zusammengemischt wurden, während gleichzeitig ein Mord geklärt werden musste. Während dieser Film aber tatsächlich die Balance schaffte aus Anteilnahme und Unterhaltung, da ist Wie alle anderen auch zu sehr von dem eigenen Thema ergriffen. Die tragischen Geschichten der Figuren werden so plakativ vorgeführt, dass man nur darauf wartet, dass à la Schoggiläbe sich jemand direkt an die Kamera richtet und dem Publikum sagt: „Findet ihr das nicht auch so furchtbar, was hier geschieht?“ Da wird keine Gelegenheit ausgelassen, um den Zuschauer*innen ganz gezielt darauf zu stoßen, was falsch läuft.
Überzeugend ist das Ergebnis daher nur manchmal. Während an manchen Stellen Tatort: Wie alle anderen auch eine eher dokumentarische, zurückgenommene Vorgehensweise wählt, wird es an anderen Stellen manipulativ, nutzt das Elend der Figuren für sich selbst, anstatt die Geschichten für sich sprechen zu lassen. Dadurch steckt der Film in einer unangenehmen Zwischenposition, ist weder natürlich genug, um als Drama zu funktionieren, noch spannend genug, um ein reguläres Krimipublikum zu bedienen. Als Versuch, für das Thema zu sensibilisieren und die bislang unbehelligten Menschen auf die systematische Schieflage aufmerksam zu machen, ist das dann zwar grundsätzlich sympathisch. Tatsächlich geglückt ist die Umsetzung aber nicht.
OT: „Tatort: Wie alle anderen auch“
Land: Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Nina Wolfrum
Drehbuch: Jürgen Werner
Musik: Olaf Didolff
Kamera: Katharina Diessner
Besetzung: Klaus J. Behrendt, Dietmar Bär, Ricarda Seifried, Niklas Kohrt, Jana Julia Roth, Hildegard Schroedter, Rike Eckermann
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