Ohne Frage sind die 1920er Jahre, trotz der wirtschaftlichen wie politischen Umwälzungen, eine kulturell sehr bedeutende Zeit gewesen, in der sich innerhalb der Kunst vieles erst definierte oder neu erfand. Nach dem Ersten Weltkrieg suchten viele Künstler nach Orientierung, nach einer Art des Umgangs mit der Vergangenheit, aber auch der Gegenwart, die sich in Form einer stetig wachsenden Urbanisierung und Technisierung zeigte, wobei sich nicht zuletzt auch das Welt- wie auch das Menschenbild veränderte.
Eine solche Zeit verlangte naturgemäß nach neuen Wegen, wie man sich mit ihr auseinandersetzen sollte, wie Hugo von Hofmannsthal bereits 1902 in seinem Werk Ein Brief, auch Chandos-Brief genannt, beschrieb, in welchem er einen Menschen darstellte, dem die Eigenschaft Dinge zu beschreiben oder über die zu reden abhandengekommen war. Da Schweigen keine Option war, wie der Brief an sich schon beweist, brauchte es im Gegenzug eine neue Sprache, damit dies wieder möglich wurde, womit Hofmannsthal unbewusst nicht nur den Grundstein für Bewegungen wie den Expressionismus legte, sondern zudem auch für anderen Kunstformen wie das noch junge Medium Film, welches immer mehr an Bedeutung gewann.
Während im Hollywoodkino wie auch in den Filmen der Weimarer Zeit vor allem verschiedene Erzähl- und Ausdrucksformen ausgetestet wurde und Regisseure wie Fritz Lang oder Friedrich Wilhelm Murnau ihren Stil fanden, sahen viele Filmschaffende immer mehr die Notwendigkeit an der Definition einer Sprache des Kinos. In diesem Zusammenhang ist der Name des David Abelevich Kaufman zu nennen, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Dziga Vertov, inspiriert von dem sich wiederholenden Geräusch der Kurbel, die man bei Kamera früher bedienen musste, damit diese filmten. Durch seine Arbeit an teils propagandistischen Werken im Dienste des politischen Systems der Sowjetunion, formulierte Vertov seine Theorie des „Kino-Auges“, die kurz gesagt das Auge der Kamera als eine Erweiterung des menschlichen Auges betrachtet. Neben vielen experimentellen Kurzfilmen gehört vor allem der 1929 entstandene Der Mann mit der Kamera zu den Hauptwerken Vertovs und ist bis heute eines der wichtigsten Dokumente der Filmgeschichte über Machart und Wirkung von Filmen.
Die neue Sprache des Films
Bis heute wird Der Mann mit der Kamera in vielen Filmschulen studiert, wenn es darum geht die Funktionsweise und Wirkung des Mediums zu studieren. Unter dem Deckmantel einer Studie über die moderne Stadt versammelt der experimentelle Dokumentarfilm eine ganze Palette filmischer Ausdrucksformen, von jump-cuts bis hin zu Überblendungen, welche Vertov zu einer wahren Symphonie auf die moderne Welt und ihre Menschen vereint. In erster Linie, so scheint es, geht es um die Sichtung und das Experiment mit diesen Techniken, wobei sich teils virtuose Bildkompositionen ergeben, welche als Reflektion nicht nur der Filmtechnik an sich, sondern vor allem dem Menschen in einer zunehmend technisierten und urbanisierten Welt dienen. Das Konterfei einer lachenden Person in Kombination mit sich drehenden Maschinen und Zahnrädern erscheint fast schon prophetisch, wie viele der Einstellungen, die Vertov gelingen und welche Der Mann mit der Kamera zudem eine gewisse historische Relevanz über die Kunst hinaus geben.
Darüber hinaus erscheint die Kamera als ständiger Begleiter des modernen Lebens, bisweilen sogar als dessen maßgeblicher Mitgestalter. Vertov konstruiert und zerlegt seine Bilder immer wieder, zeigt den Kameramann, der auf der anderen Seite, im anderen Wagen oder auf der anderen Straßenseite filmt, wobei die Perspektive immer wieder wechselt. Eine Gruppe von Menschen in einem Auto wird durch die Montage verlangsamt, dann wieder beschleunigt, nur um dann wieder zurückgespult zu werden. Vor allem das Konzept von Zeit, insbesondere die Idee von Gleichzeitigkeit, wird als ein Instrument des Filmes verstanden, ein Aspekt, welcher, gleich der Farben auf einem Gemälde, nicht nur konstruiert, sondern zugleich verändert wird. Im Festhalten und Verändern der Momente und Bewegungen steckt eine große Kraft, ein Weg dazu, zu einem Verständnis zu kommen oder gar eine Perspektive auf diese Phänomene zu vermitteln.
Neben der technischen Komponente darf man nicht vergessen, dass Der Mann mit der Kamera auch ein Porträt der Großstadt und des Stadtmenschen ist. Ohne bei diesen zu verweilen, fängt Vertovs Kamera eine Vielzahl kleiner Momente ein, stellt diese gegenüber und gibt so Momentaufnahmen des komplexen, urbanen Gefüges. Ein Paar, welches gerade heiratet, wird gezeigt, dicht gefolgt von einem weiteren, welches beim Amt gerade die Scheidungspapiere unterschreibt. Dann wieder sehen wir Impressionen von Arbeit, in einer Fabrik und unter Tage, verfolgen eine Truppe Feuerwehrleute, die zum Einsatz ausrückt, und verfolgen wie eine Straße am Morgen zum Leben erweckt wird, wenn die Läden öffnen und die Menschen aus ihren Häusern strömen. Die Flüchtigkeit dieser Momente, ihre Regelmäßigkeit sowie die scharfen Kontraste des modernen Lebens sind genauso Teil dieser filmischen Palette wie die bereits erwähnten Techniken, welche Vertovs Film nutzt.
OT: „Tschelowek s kinoapparatom“
Land: Russland, Ukraine
Jahr: 1929
Regie: Dziga Vertov
Kamera: Mikhail Kaufman
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