Obwohl Harry (Wolfram Koch) bereits vor Ort ist und Zeuge des schweren Verkehrsunfalls wird, kommt für die vierköpfige Familie jede Hilfe zu spät. Nach außen hin lässt sich der Polizist nichts anmerken, er versucht einfach ganz normal weiter zu machen. Zumal er privat auch mehr als genug um die Ohren hat. So erwartet seine zweite Frau Ellen (Antje Traue) ein Kind von ihm. Vicky (Lola Liefers), die Tochter aus erster Ehe, will bei ihm einziehen. Und doch: Das Ereignis lässt ihm keine Ruhe, zumal er den verstorbenen Familienvater am Tag zuvor noch bei einer Verkehrskontrolle gesprochen hat. Seine Gedanken kreisen immer wieder um die vier. Auch das nun leerstehende, abgelegene Haus der Familie zieht ihn magisch an …
Ein Polizist abseits des Verbrechens
Kein Beruf dürfte im deutschen Fernsehen wohl stärker überrepräsentiert sein als das des Polizisten. Während Endlosreihen wie Tatort, Polizeiruf 110 oder Ein starkes Team schon seit Jahrzehnten über hiesige Bildschirme flimmern, werden regelmäßig neue Krimis gestartet, immer mit der Hoffnung, ebenfalls eine erfolgreiche Reihe auf die Beine zu stellen. So schön das für Fans und Rätselknacker ist, bei vielen dürfte schon eine Form von Übersättigung vorliegen. Wie viele TV-Krimis braucht der einzelne Mensch schon? Gibt es da überhaupt noch Geschichten, welche nicht schon dutzendfach erzählt wurden? Klar, es gibt immer mal wieder Versuche, sich von der Konkurrenz zu unterscheiden, sei es durch gesellschaftliche Bezüge oder auch Humor. Aber da ist schon recht viel Austauschbares dabei.
Elke Hauck beweist, dass man sich der Figur des Polizisten auch ganz anders annähern kann. In Gefangen interessiert sich die Regisseurin und Drehbuchautorin nicht für Verbrechen und deren Aufklärung. Stattdessen nimmt sie sich einen Vertreter dieses Berufes vor und lässt diesen in eine Sinnkrise schlittern. Dabei zeigt sie zunächst gar nicht, wie nahe Harry die Begegnung mit der Familie geht – auch weil der das gar nicht wahr haben will. Erst nach und nach machen sich Veränderungen bemerkbar, für das Umfeld des Protagonisten wie auch das Publikum. Er beginnt, sich zunehmend seltsam zu verhalten. Hinter der ruhigen Fassade geht etwas vor sich, das keiner richtig greifen kann. Kleinere Irritationen stellen sich ein, zuweilen ist das Verhalten sogar regelrecht verstörend.
Eine Sinnkrise voller Rätsel
Dabei bleibt die Handlung eigentlich recht sparsam. Mit Erklärungen knausert Hauck ohnehin. Das steht natürlich in einem starken Kontrast zu den sonst üblichen Vorgehensweisen deutscher Fernsehproduktionen, die im Zweifel lieber mit dem Vorschlagshammer alle Ambivalenzen in Stücke schlagen. Gut möglich, dass dies bei vielen auch Unverständnis bis Ärger auslösen wird. Gefangen fasst nie in Worte, was da mit Harry passiert, warum der Vorfall eine derartige Sinnkrise in ihm auslöst. Sind es Schuldgefühle, weil er nichts tun konnte? Sehnt er sich nach einer intakten Familie, während seine Situation schwieriger ist? Auch bleibt offen, inwiefern seine Reaktionen ihm bei der Verarbeitung helfen. Ob sie ihm überhaupt helfen sollen.
Stattdessen setzt Hauck vorrangig auf Atmosphäre und Symbole. Vor allem der Wolf taucht regelmäßig auf, da er in der Nähe des Familienanwesens sein Zuhause hat. Als Symbol für das Tier im Menschen wird dieser immer wieder gern in Filmen herangezogen, sei es das Horrormärchen Die Zeit der Wölfe oder auch die deutschen Dramen Wild und Kopfplatzen. Aber selbst das ist hier nicht eindeutig. Denn auch wenn da ein gewisser Kontrollverlust bei Harry zu beobachten ist, er führt nicht zwangsläufig zu Grausamkeit oder unmenschlichen Zügen. Gefangen spielt zwar mit der Stimmung eines Horrorfilms, lässt einen immer wieder befürchten, dass da etwas ganz Schlimmes passieren wird. Doch es bleibt beim Ominösen.
Melancholie abseits der Rationalität
Mit dieser Art des vagen Erzählens muss man umgehen können. Muss sich einlassen können auf die Vorstellung, dass da etwas in einem Menschen vor sich geht, das sich einer klaren Rationalität entzieht. Das bedeutet jedoch nicht, dass Gefangen vollkommen unsinnig wäre. Vielmehr nimmt der Film leicht traumartige Züge an, während ein Mann sich immer weiter treiben lässt, besessen von einer Idee, die er selbst nicht kennt. Das ist faszinierend, auch weil Hauptdarsteller Wolfram Koch die Mischung aus Härte und Einfühlsamkeit mitbringt, aus Sehnsucht und Bedrohung. Das Ergebnis ist ein sehr melancholisches Werk, das einiges über die Menschen zu sagen hat, selbst wenn es nichts sagt. Das einen mitnimmt auf eine Reise ins Innere, das Rückzugsort und Gefängnis in einem ist. Ein Ort, der Trost spendet, in dem man zeitgleich aber immer weiter im Abgrund versinkt.
OT: „Gefangen“
Land: Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Elke Hauck
Drehbuch: Elke Hauck
Musik: Tobias Wagner
Kamera: Patrick Orth
Besetzung: Wolfram Koch, Antje Traue, Sebastian Schwarz, Lola Liefers, Anna Böger
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