Hühnchen in Essig Poulet au vinaigre
© Micheline Pelletier

Hühnchen in Essig

Inhalt / Kritik

Hühnchen in Essig Poulet au vinaigre
„Hühnchen in Essig“ // Deutschland-Start: 3. Oktober 1985 (Kino)

Die querschnittsgelähmte Madame Cuno (Stéphane Audran) lebt zusammen mit ihrem Sohn Louis (Lucas Belvaux) in einem alten Haus in einem Provinzstädtchen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die beiden dort raus müssen. Schon seit Längerem setzen sie der Notar Hubert Lavoisier (Michel Bouquet), der Metzger Gérard Filiol (Jean-Claude Bouillaud) und der Arzt Dr. Philippe Morasseau (Jean Topart) unter Druck, ihr Grundstück zu verkaufen, damit sie mit einem Immobilienprojekt richtig viel Geld verdienen können. Als Louis beginnt sich zu wehren, ruft dies auch Inspektor Jean Lavardin (Jean Poiret) auf den Plan, der mit zweifelhaften Methoden der Sache auf den Grund geht und dabei einem Netz aus Intrigen, Korruption und Affären auf die Spur kommt …

Kampf um das eigene Zuhause

In den letzten Jahren wurde es zu einem der großen gesellschaftlichen Themen, und das weltweit: die Gentrifizierung. Die Städte werden zu einem reinen Versammlungsort der Reichen, seien es vermögende Privatpersonen oder große Unternehmen. Wer sich nicht dazu zählt, der findet immer weniger Raum. Die Mieten sind durch die Decke geschossen, Kaufpreise von Immobilien sowieso. Leute, die noch in alten Wohnungen sitzen, werden mit viel Druck zum Wegziehen genötigt. Filme wie Atlas oder Der letzte Mieter zeigen den verzweifelten Kampf der einfachen Bevölkerung gegen einen übermächtigen Feind, der mit widrigen Mitteln begehrte Grundstücke an sich reißt.

Dabei hat es solche Praktiken schon viel früher gegeben, wie uns Hühnchen in Essig vor Augen führt. Schon 1985 wurde darin erzählt, wie eine Familie aus einfachen Verhältnissen von der gierigen Elite verdrängt werden soll, aus bloßer Profitgier heraus. Im Gegensatz zu den obigen Titeln handelt es sich hierbei jedoch nicht um einen reinen Thriller, bei dem zu einem erbitterten Widerstandskampf kommt. Vielmehr verband der französische Genrespezialist Claude Chabrol (Das Leben ist ein Spiel, Die Fantome des Hutmachers) diese persönliche Geschichte mit einem etwas weitergehenden Kriminalfall. Was zunächst mit den Aktionen von Louis noch klar umrissen ist, wird zu einer Aufarbeitung eines ganzen Gestrüpps aus Niederträchtigkeiten und Verbrechen.

Jenseits von Gut und Böse

Dabei ist auffällig, dass das von Dominique Roulet und Chabrol geschriebene Drehbuch die Grenzen zwischen Gut und Böse auflöst. Während beispielsweise der Kampf von David gegen Goliath immer mit einer festgelegten Sympathiereihenfolge einhergeht, sind die Mittel von Louis mindestens fragwürdig. Vor allem aber der Inspektor hält sich an keine vorgefertigten Schubladen – oder auch Gesetze. In Hühnchen in Essig lernen wir den Polizisten als einen skrupellosen Menschen kennen, der auch vor Gewalt nicht zurückschreckt, um sein Ziel zu erreichen. Wo bei Es geschah am hellichten Tag noch mit der Möglichkeit gespielt wird, dass ein Held wenig Heldenhaftes tun könnte, da schlägt Lavardin gleich direkt zu. Ist ja für eine gute Sache.

Jean Poiret, der diese Figur anschließend noch in dem Kinofilm Inspektor Lavardin oder Die Gerechtigkeit sowie einer Serie verkörperte, beeindruckt in seiner Rolle als fragwürdiger Gesetzeshüter. Erst relativ spät stößt dieser zur Geschichte hinzu. So spät, dass man ihn erst als Nebenfigur wahrnimmt, bevor er sich immer mehr in den Mittelpunkt kämpft. Aber so ist das eben bei den Charakteren, die Chabrol in Hühnchen in Essig vorstellt: Sie nehmen sich alle, was sie wollen, interessieren sich kaum für das Schicksal anderer. Selbst Madame Cuno, die als querschnittsgelähmte und bedrängte Witwe das perfekte Opfer ist, setzt sich des Öfteren über ihren Sohn hinweg. Wenn die beiden gegen die vermögenden Aggressoren aufbegehren, dann weniger aus einem familiären Zusammenhalt heraus, sondern als eine Art Zweckgemeinschaft.

Abgründiges mit Humor

Das hört sich alles wahnsinnig düster bis nihilistisch an. Doch auch wenn Chabrol eine nicht sehr hoffnungsvoll stimmende Sicht auf die Gesellschaft bietet, Hühnchen in Essig ist kein Sozialdrama. Das verhindert schon der schwarze Humor, den der Regisseur und Co-Autor immer mal wieder einbaut. Der ist so präsent, dass der Film sogar immer mal wieder als Krimikomödie bezeichnet wird. Ob man tatsächlich so weit gehen muss, darüber lässt sich streiten. Gags im eigentlichen Sinn oder gar parodistische Elemente sucht man hier vergebens. Es ist vielmehr der spöttische Ton, der nach und nach die Abgründe sämtlicher Figuren entlarvt, der zum Unterhaltungsfaktor beiträgt. Ein Ton, der sich bereits im Originaltitel ankündigt, wenn sich das Poulet au vinaigre sowohl wörtlich auf ein Hühnchen beziehen kann, aber auch umgangssprachlich für Polizist steht. Denn der ist pur auch ungenießbar.

Credits

OT: „Poulet au vinaigre“
Land: Frankreich
Jahr: 1985
Regie: Claude Chabrol
Drehbuch: Dominique Roulet, Claude Chabrol
Vorlage: Dominique Roulet
Musik: Matthieu Chabrol
Kamera: Jean Rabier
Besetzung: Jean Poiret, Stéphane Audran, Lucas Belvaux, Michel Bouquet, Pauline Lafont, Jean Topart, Caroline Cellier, Jean-Claude Bouillaud, Josephine Chaplin

Bilder

Trailer

Filmpreise

Preis Jahr Kategorie Ergebnis
Cannes 1985 Goldene Palme Nominierung
César 1986 Bester Nachwuchsdarsteller Lucas Belvaux Nominierung

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In „Hühnchen in Essig“ kämpfen eine Mutter und ihr Sohn gegen drei Männer, die ihnen das Haus wegnehmen wollen. Was als Sozialdrama beginnt, wird immer mehr zu einer Mischung aus Krimi und Porträt einer verkommenen Gesellschaft, bei der die Grenzen zwischen Gut und Böse weggeätzt werden.
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von 10