Auf einer kleinen Insel, umgeben von einem „toten Meer“, befindet sich eine kleine Dorfgemeinde, die vor allem vom Fischfang lebt. Der Ozean prägt aber noch auf andere Art und Weise das Leben der Bewohner, denn im Meer befinden sich monströse Kreaturen, ähnlich den Meerjungfrauen aus Sagen, welche von den Menschen so sehr gefürchtet werden, dass diese ihnen regelmäßig Opfer bringen. So muss jede Familie ihre erstgeborene Tochter dem Meer und damit den Monstern als Opfergabe darbringen, was eines Tages von Muthana (Yaqoub Alfarhan) verweigert wird, der in letzter Minute seine Tochter aus den Fluten retten kann, sehr zum Missfallen der Dorfältesten. Die Jahre vergehen und die mittlerweile 12-jährige Hayat (Basima Hajjar) wird von den anderen Dorfbewohnern wie eine Aussätzige behandelt und ihr Vater als ein Feigling beschimpft. Als wäre dies nicht schon genug, wird Muthanas Weigerung ein Opfer zu bringen vor so vielen Jahren als Grund angesehen für die derzeit grassierende Dürre sowie die Armut des Dorfes. Nachdem Hayats Mutter als nächstes Kind einen Jungen zu Welt gebracht hat, wird Muthana noch mehr bedrängt, den Traditionen und Geboten des Dorfes Folge zu leisten.
Allerdings denkt Hayat nicht daran, sich ihrem Schicksal zu fügen. Hineingerissen in die Fluten und in den Fängen eines der Monster, bringt sie dieses schließlich um und schleppt den leblosen Körper zurück ins Dorf. Wegen ihres offensichtlichen Mutes und Talents für die Jagd wird sie von den Jägern des Dorfes in deren Lager willkommen geheißen, doch auch hier findet sie kaum Anschluss, wird nach wie vor als Magnet für Unglück angesehen. Die Schuppen, die ihr seit der Kindheit am linken Fuß wachsen, lassen die Männer vermuten, das junge Mädchen könne selbst eines Tages zu einem der Monster werden.
Meerjungfrauen und Monster
Mit Scales legt die saudische Regisseurin Shahad Ameen ihren ersten Langfilm vor, der auf den Filmfestspielen in Venedig 2019 mit dem Verona Film Club Award ausgezeichnet wurde und aktuell auf dem Arabischen Filmfestival Berlin 2021 zu sehen ist. In der dystopischen Geschichte um ein junges Mädchen verarbeitet Ameen Erinnerungen an ihre eigene Jugend, an die Veränderungen, die sie an ihrem Körper beobachtete und wie sich von diesem entfremdete. Innerhalb einer sehr maskulin-dominanten Gesellschaft wie der ihres Heimatlandes werden sehr explizite Erwartungen an junge Frauen gerichtet, was zu einem wahren Identitätskonflikt führen kann, wie die Filmemacherin in Interviews beschreibt. Der Wunsch, ein Junge zu sein, mit all den „Vorteilen“, die dies innerhalb der Gesellschaft mit sich bringt, begegnete ihr immer wieder, sodass Scales in gewisser Weise als eine Art Parabel auf diese Prozesse der Entfremdung, Anpassung und Akzeptanz zu verstehen ist.
Dabei entwirft Ameen eine Welt, die sich zu gleichen Teilen fremd und bekannt vorkommt. Die nach archaischen Regeln und Traditionen funktionierende Dorfgemeinde in Scales befindet sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Natur wie auch einem Glauben, welcher wiederum einen für jenen strengen Kodex die Basis hergibt, nach welchem aussortiert und akzeptiert wird. Die Meerjungfrauen sind eine beständige Bedrohung, aus der sich die Bestätigung eben jenes Kodexes herleitet, gleichsam schön wie auch monströs und grausam. Zugleich erscheinen sie in Ameens Film auch immer wieder als bemitleidenswerte Kreaturen, die vor allem auf ihre eigenes Überleben ausgerichtet sind.
Anders als andere dystopische Narrative verlagert Ameen ihre Themen nicht in einer Zukunft, sondern einem Raum, losgelöst von Raum und Zeit, eine Parallelwelt, die irgendwo zwischen Märchen- und Sagenwelt liegt. In diesem Zusammenhang betont die Kameraarbeit João Ribeiros, der die Landschaft und die Figuren in stark ästhetisierten, doch gleichsam sehr naturalistisch wirken.
Gegen die Gemeinschaft
Ähnlich dem Hintergrund mancher Märchen geht es auch in Scales um Themen wie Selbstbestimmung und Anpassung. Wie bereits angesprochen ist der Körper die zentrale Metapher, der immer wieder in den Vordergrund rückt, sei es in Form von Anomalien, wie den Schuppen an Hayats Fuß oder den Seemonstern an sich. Mit unverhohlenem Ekel, mit Verachtung und Ausgrenzung reagiert das Kollektiv auf diese Aspekte, kann sie nicht akzeptieren und sieht sie, passend zum eigenen Verhaltens- und Moralkodex, als böses Omen. Ameens Drehbuch vermischt immer wieder die verschiedenen Ebenen ihrer Geschichte, bleibt aber bedauerlicherweise etwas unterkomplex in der Botschaft. Ihrer prächtigen Bilderwelt wird dies leider nicht durchweg gerecht.
OT: „Sayyedat al-Bahr“
Land: Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate
Jahr: 2019
Regie: Shahad Ameen
Drehbuch: Shahad Ameen
Musik: Fabien Kourtzer
Kamera: João Ribeiro
Besetzung: Basima Hajjar, Yaqoub Alfarhan, Abdulaziz Shtian, Ibrahim Al-Hasawi, Rida Ismail
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