In seinem vielzitierten Gedicht The Ballad of East and West kommt gleich in der ersten Zeile einer jener Sätze, der Rudyard Kipling, Autor von Das Dschungelbuch, bis heute immer wieder fälschlicherweise als Rassismus ausgelegt wird, spricht er darin nämlich von der Unvereinbarkeit der östlichen und der westlichen Welt. Jedoch schreibt Kipling nur wenige Zeilen später davon, dass diese Unmöglichkeit nur dann bestünde, wenn man verschiedene Hautfarben oder Abstammungen als Hindernis sehen würde, nicht aber, wenn sich zwei Menschen auf Augenhöhe begegnen, im Rahmen einer Begegnung, die von gegenseitigem Respekt geprägt ist. Dennoch könnten die Gegensätze, wenn man sich europäische wie auch die asiatische Kultur ansieht, nicht größer sein, wobei man noch nicht einmal auf wirtschaftliche wie politische System einzugehen braucht. Die Vermischung zweier gegensätzlicher Einflüsse oder zumindest die Begegnung im Sinne Kiplings erscheint an der Oberfläche nicht möglich zu sein, doch ergeben sich doch gerade in dieser Begegnung ungeahnte Chancen der Entwicklung und des Verständnisses.
Nirgendwo ist dies so offensichtlich wie in der Kunst, haben sich in Literatur, Musik und Malerei schon immer diverse Einflüsse getroffen und gingen nicht selten eine interessante, faszinierende Symbiose ein. Im Selbstverständnis des chinesischen Komponisten Guo Wenjing spielt gerade dieser Gedanke einer Verbindung von augenscheinlich unvereinbaren Gegensätzen eine wesentliche Rolle innerhalb seines künstlerischen Schaffens. In der Dokumentation Inner Landscape begleitet der niederländische Regisseur Frank Scheffer Wenjing bei einem sehr ambitionierten Projekt, nämlich der Zusammenarbeit mit Ed Spanjaard, dem Dirigenten des Nieu Ensemble. Ihr Plan ist es die klassische chinesische Oper Si Fan in Europa aufzuführen, wobei die von Wenjing komponierte Musik westliche und östliche Klangwelten, Narrative und Instrumente miteinander verbinden will.
Eine neue Perspektive
Gleich zu Anfang der Dokumentation sehen wir einen Moment in der kreativen Arbeit Guo Wenjings, der sinnbildlich für viele der Themen in dieser vielseitigen und schönen Dokumentation steht. Per Voice-Over erklärt der Komponist seine Faszination mit jenen Stellen innerhalb eines Raumes, an die man sich normalerweise nicht begibt, welche dem Betrachter den an sich so vertrauten Raum in einer neuen Dimension zeigen, ihn verwandeln und verändern können. Schon als Kind, so erzählt er, war der Platz unter seinem Bett oder das Liegen auf dem Fußboden ein Moment, der ihm Vertrautes in einem neuen Licht erscheinen ließ. In diesem Moment betont Wenjing in gewisser Weise nicht nur ein Kernprinzip seiner Arbeit, sondern auch ein Gestaltungsmittel von Scheffers Dokumentation, welche den Zuschauer immer wieder dazu auffordert, Vertrautes aus einer neuen Perspektive zu sehen.
Chronologisch verfolgt Scheffer das Vorhaben Wenjings und Spanjaard, zeigt ihre zahlreichen Gespräche, in denen sie über Probleme und Möglichkeiten des Projekts sprechen. Wie für den Chinesen, der die Klangwelten des westlichen Ensembles für sich entdecken muss, ist es auch eine neue Erfahrung für Spanjaard, der ganz gefesselt zu sein scheint von den zahlreichen Instrumenten der chinesischen Musiker wie auch dem Gesang, der so ganz anders anmutet als man es von der europäischen Oper gewohnt ist. So zeigt Scheffer nichts weniger als ein Beispiel für eben jenen Dialog, von dem bereits Kipling spricht, und teilt die Faszination für die Ergebnisse.
OT: „Inner Landscape“
Land: Niederlande
Jahr: 2019
Regie: Frank Scheffer
Drehbuch: Frank Scheffer
Musik: Guo Wenjing
Kamera: Melle van Essen, Joewi Verhoeven, Benito Strangio, Jean Cournet, Frank Scheffer
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