In seinem Tagebuch und seinen Notizen stellt sich dem Schweizer Schriftsteller Max Frisch mehr als einmal die Frage, was genau Heimat denn nun sein könnte. Für seine Figuren, wie den Bildhauer Anatol Ludwig Stiller oder den Ingenieur Walter Faber, wird zu genauso zentral und letztlich entscheidend für Liebe, Familie und Identität, vor allem, da all diese Aspekte untrennbar miteinander verwoben sind, was Heimat freilich zu einem Konzept macht, was sich von einer rein geografischen Größe löst. Für viele, wie auch Frisch im Rahmen seiner Gedanken feststellte, kann auch eine Erinnerung eine Form von Heimat oder Identität sein, und sich, genauso wie die Heimat, aus der man im geografischen Sinne kommt, mit der Zeit ändern. Interessant ist hierbei gerade dieser Prozess der Veränderung dieses Konzepts, wenn beispielsweise Aspekte der Vergangenheit und der Erinnerung offengelegt werden, die man bislang nicht kannte oder unter Verschluss hielt. In seinem ersten Film Langsam vergesse ich eure Gesichter, einer Mischung aus Dokumentation und Experimentalfilm, geht der in Deutschland geborene Daniel Asadi Faezi der Geschichte seiner Familie auf den Grund und eröffnet sich wie auch dem Zuschauer eine interessante Perspektive auf die Verbundenheit von Identität, Heimat und Erinnerung.
Schon alleine vom Aufbau her wirkt Langsam vergesse ich eure Gesichter, der im Rahmen des diesjährigen DOK.fest München gezeigt wird, eher wie ein Experiment. In einem spartanisch eingerichteten Zimmer stehen zwei Stühle und ein kleiner Tisch, auf dem sich, je nach Szene, Briefe finden, die von Faezis Onkel und seinem Vater vorgelesen und besprochen werden. Zum Hintergrund ist zu wissen, dass Hassan, der Vater des Regisseurs, kurz vor der Islamischen Revolution seine Heimat verließ und nach Deutschland auswanderte, um dort zu studieren. Sein Bruder, Ebi, blieb, zusammen mit dem Rest der Familie im Iran, engagierte sich politisch und erlebte am eigenen Leib, wie die Revolution seine Heimat veränderte.
Ein grauer Abschnitt vom Leben
Sofern man eine Dokumentation als eine Art Spurensuche begreift, erfüllt Faezis erster Film diese Definition voll und ganz. Vor allem für ihn selbst, wie auch seinen Vater und seinen Onkel, ist die Auseinandersetzung auf der Basis von Briefen eine Wiederbegegnung mit der Vergangenheit, die mal sehr heiter ausfällt, aber dann auch wieder traurig und nachdenklich. Die Briefe, welche über viele Jahre im Keller der Faezis gelegen haben, sind das Fundament eines Dialogs über „graue Abschnitte des Lebens“, wie es Hassan Faezi an einer Stelle im Film beschreibt. Vieles hat man vergessen und vieles anders in Erinnerung, doch über das Finden einer gemeinsamen Geschichte kommt man zu einer Begegnung.
Neben dem Gespräch sind es auch die stillen Momente, die Langsam vergesse ich eure Gesichter ausmachen. Zwischen den einzelnen Segmenten scheint Faezi innezuhalten, die Kamera sich auf einen Punkt im Raum zu konzentrieren, so, als ob gerade dieser Moment festgehalten werden muss oder man noch Zeit benötige, um das, was gerade geschah, verarbeiten zu können. Auf die hellen Wände projiziert Faezi Fotografien oder Filme seiner Familie, welche als Ergänzung zu den Briefen betrachtet werden können, als Bestätigung einer Erinnerung, die nun sowohl die beiden Brüder als auch der Filmemacher selbst teilen. Und natürlich auch der Zuschauer.
OT: „Langsam vergesse ich eure Gesichter“
Land: Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Daniel Asadi Faezi
Drehbuch: Daniel Asadi Faezi
Musik: Andy Ozbolt
Kamera: Lukas Nicolaus
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