Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte gehört zu den wohl wichtigsten Leistungen einer Kultur. Gerade in Deutschland, aber auch vielen anderen Nationen, ist dieser Aspekt Teil einer politischen wie auch gesellschaftlichen Agenda, welche sich zeigt in einer omnipräsenten Erinnerungskultur, von einem festen Platz in Schulcurricula bis hin zu zahlreichen Museen und Mahnmalen. Dabei geht es weniger um eine Form der Demonstration, dass man sich an bestimmte Personen, deren Leistungen und Opfer erinnert, sondern vielmehr um einen Akt der Vergegenwärtigung, an welchem Punkt man als Kultur angekommen ist und inwiefern ein Blick zurück ein Licht wirft auf die momentane Lage. Vor dem Hintergrund eines Wiederaufkommens populistischer Bewegungen oder dem Einschränken von Grundrechten erscheint es immer wieder sinnvoll, sich gewisser historischer Momente zu besinnen und die nicht als Pflichterfüllung zu sehen, sondern vielmehr als eine Notwendigkeit.
Jedoch ist gerade der Akt der Aufarbeitung insbesondere in jenen Kulturen schwierig, welche ihre Geschichte entweder selbst oder im Zuge anderen Ideologien zensiert oder teils sogar verändert haben. Insbesondere unter dem kommunistischen Regime war es lange Zeit sehr schwierig, wenn nicht sogar fast unmöglich, zu dokumentieren, wie sich ein Land wie Rumänien während der Zeit des Holocaust entwickelt hatte. In seiner Dokumentation The Dead Nation, welche 2017 auf dem Filmfestival Locarno ihre Premiere feierte, erzählt Regisseur Radu Jude (The Exit of the Trains, Bad Luck Banging or Loony Porn) gleich von zwei Versionen seines Heimatlandes, der offiziellen Version und jener, die man gerne verschwiegen würde. Mithilfe von historischen Fotografien von Costică Acsinte, dem Fotografen aus einem kleinen rumänischen Dorf, sowie den von Jude vorgetragenen Erinnerungen des jüdischen Arztes Emil Dorian zeigt die Dokumentation diese beiden Bilder der Nation, ein Bild von einer nahezu heilen Welt und jenes einer Gesellschaft, die immer gnadenloser und herzloser wurde.
Die Verwandlung einer Heimat
Für Zuschauer, die bereits mit Radu Judes Arbeit in The Exit of Trains vertraut sind, wird The Dead Nation viel Bekanntes beinhalten, zumindest von der Art und Weise, wie sich der Regisseur seinem Thema annähert. In diesem Falle allerdings wird einem schon bald die Diskrepanz zwischen dem Visuellen, den Bildern Acsintes, und der Narration auffallen, eben jenen Tagebucheinträgen Dorians, der chronologisch nacherzählt, wie sich seine Heimat durch das Aufkommen von Antisemitismus und Nationalismus immer schneller veränderte und ihm, wie auch anderen Juden, zunehmend feindlich gesonnen war. Der Kontrast ist das Hauptstilmittel dieser Dokumentation, die bisweilen eher an eine Kunstinstallation erinnert, beispielsweise, wenn Szenen einer Gruppe, die mit falschen Bärten und Gewehren auf sich zielt, kombiniert wird mit der Geschichte von entwürdigenden Repressalien, denen sich Dorian und seine Familie ausgesetzt fühlen.
Auch wenn sich eben jener Gegensatz als Stilmittel mit der Zeit etwas erschöpft, bleibt doch der Schock über jene zwei Versionen des Landes, der offiziell-bürgerlichen auf der einen Seite und jener von Gewalt und Bedrohung definierten Realität. Während die erste Version scheinbar unverändert bliebt, verändert sich die Welt Dorians rapide, wird immer brutaler, trauriger und feindlicher.
OT: „Țara moartă“
Land: Rumänien
Jahr: 2017
Regie: Radu Jude
Drehbuch: Radu Jude
Kamera: Costică Acsinte
https://www.youtube.com/watch?v=dLTdgbLIyc4
Locarno 2017
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