In ihrem Spielfilmdebüt Kids Run (ab 3. Juni 2021 als Video on Demand) erzählt Barbara Ott von dem jungen Dreifachvater Andi (Jannis Niewöhner), dem es kaum gelingt, sich und seine Familie zu versorgen, und der nach dem Verlust seines Tageslöhnerjobs auf dem Bau wieder mit dem Boxen anfängt. Wir haben uns mit der Regisseurin und Drehbuchautorin über das Drama, gesellschaftliche Stigmatisierung und die Aufgaben von Eltern unterhalten.
Wie und wann bist du auf das Thema für Kids Run gekommen?
Ich hatte einen Kindergartenfreund, wir waren damals vier oder fünf Jahre alt. Er hatte durch seine soziale Herkunft und die Familienkonstellation, in der er aufgewachsen ist, einen großen Stempel auf seiner Stirn. Ich habe dieses Stigma damals natürlich schon gemerkt und wie die Leute mit ihm umgingen oder über ihn sprachen. Er war eine große Inspiration für mich bei diesem Film. Auf eine gewisse Art kämpfe ich immer noch für Gerechtigkeit und will ihn beschützen.
Für mich ist Andi, die Hauptfigur meines Films, jemand, der sehr aggressiv und ungehalten ist, der aber immer auch für eine gute Sache kämpft. Und er liebt seine Kinder abgöttisch und würde alles für sie tun. Mich interessiert es, mich mit Menschen auseinanderzusetzen, die irgendein Stigma mit sich herumtragen, hinter dem aber deutlich mehr steckt, als wir alle denken. Das ist es, was ich mit „Kids Run“ erreichen wollte.
Könntest du uns ein wenig über die Stoffentwicklung erzählen? Da sind ja schon einige sehr harte Szenen in dem Film.
Das stimmt. Am Anfang schreibe ich ehrlich gesagt erst einmal einfach drauflos. Klar habe ich gewisse Figurenvorbilder und Erinnerungen in mir, die ich einarbeite. Das sind dann oft auch Dinge, die ich kenne oder erlebt habe und die ich dann dramatisch zuspitze. Dass man mal sein Kind am Arm packt oder laut zu ihm ist, das ist etwas, was glaube ich ganz viele Leute kennen, die Kinder haben. Oder auch das Gefühl, dass man ungerecht zu seinen Kindern war oder nicht angemessen reagiert hat. Und das habe ich genommen und weiter zugespitzt. Natürlich habe ich aber auch viel recherchiert und Workshops mitgemacht. Erziehungsworkshops, die Eltern als Auflagen vom Jugendamt mitbekommen haben. An diese Dimension wollte ich aber nie heranreichen. Ich wollte nie einen Vater zeigen, dem man die Kinder wegnehmen muss.
Andi versucht alles, um seine Kinder zu versorgen, scheitert aber dabei. Wie viel davon ist selbst verschuldet, wie viel ist gesellschaftlich bedingt?
Gute Frage. Auf der einen Seite heißt es natürlich schon, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Aber ich glaube nicht, dass das stimmt. Andi ist wie viele andere Menschen auch in einem dieser Vororte aufgewachsen, wo es keine Chancengleichheit gibt. Andi ist auch jemand, dem das nicht vorgelebt wurde. Und es ist immer schwierig, Kindern etwas vorzuleben, das man selbst nicht erlebt hat. Für mich ist Andi deshalb eine Figur, die das ganz toll macht. Er muss das alles aus sich selbst schöpfen. Es wurde ihm nie beigebracht, wie man zu Kindern ist oder wie man Beziehungen führt, die gesund sind. Ihm wurde nie gesagt, dass er gut in etwas ist oder dass man stolz auf ihn ist. Dass er etwas erreichen kann. Am Ende des Films verstehen er und Sonja, dass sie als Eltern immer Verantwortung haben werden für diese Kinder und immer Teil eines gemeinsamen Lebens sind, selbst wenn sie kein Paar sind.
Du hast schon gemeint, dass Andi ziemlich auf sich allein gestellt ist. Wie könnte die Gesellschaft ihn unterstützen, dass er das besser auf die Reihe bekommt?
Ich glaube, dass man Menschen, die am Rande der Gesellschaft sind und in einer Art Ghetto wohnen, alleine schon dadurch unterstützen könnte, indem man nicht so viel Angst vor ihnen hat. Dass man nicht ständig versucht, seinen Grund und Boden vor äußeren Einflüssen zu schützen. Wenn die Menschheit sich öffnen würde auch für den Rand der Gesellschaft und diesen mehr in die Mitte nehmen würde, wäre das schon eine große Unterstützung. Wenn Kinder schon in der Grundschule ausgegrenzt werden und ihnen vermittelt wird, dass sie immer am schlechtesten sein werden, dann nehmen wir ihnen die Zukunft, noch bevor sie etwas tun konnten.
Eine ganz allgemeine Frage: Was macht gute Eltern aus und was sind ihre Aufgaben im Leben?
Ich bin in der Hinsicht natürlich nicht ausgebildet, weswegen ich das jetzt nicht allumfassend beantworten kann. Aber es ist schon wichtig, dass Eltern ihre Kinder in dem unterstützen, was sie sind. Dass sie ihnen eine Art Urvertrauen mitgeben, sowohl in die Eltern wie auch in sich selbst, und ihnen einen positiven Start ins Leben ermöglichen.
In den letzten Monaten haben viele Eltern sehr viel mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen müssen, weil Schulen und Kitas geschlossen waren und alle im Home Office arbeiteten. Für die einen war das eine sehr wertvolle Erfahrung, so viel Zeit zusammen zu sein. Aber es gab auch Schattenseiten. Wie würdest du diese Zeit beurteilen?
Das kann man so pauschal gar nicht beantworten. Ich denke, dass es viele Kinder gab, die das nicht so gut fanden. Viele Kinder sind jetzt noch abgehängter als zuvor. Es dürfte für viele Familien auch zu viel und zu eng gewesen sein. Letztendlich hängt das stark von den eigenen Lebensbedingungen ab, wie man diese Zeit empfunden hat. Wenn man privilegiert ist und das alles ganz toll auf die Reihe bekommt, dann war das sicher eine schöne Erfahrung. Aber dieses Privileg hat nicht jeder.
Kids Run war dein erster Spielfilm. Was waren dabei die Herausforderungen für dich?
Im Grunde war es gar nicht so viel anders, als meinen Diplomfilm zu drehen. Klar, wir hatten längere Drehzeiten und ich hatte ein größeres Budget zu verantworten. Den Debütfilm zu drehen, ist immer eine Art Kampf. Deswegen war es schon ein sehr aufregender und anspruchsvoller Dreh für alle. Aber es war auch eine tolle Erfahrung und ich habe mit vielen tollen Menschen zusammenarbeiten können.
Apropos: Wie kam es, dass Jannis Niewöhner die Hauptrolle übernommen hat? Bei einem Debütfilm ist es ja nicht selbstverständlich, gleich mit einem bekannten Schauspieler zusammenzuarbeiten.
Ich habe bei Kids Run ein großes Casting gemacht, da waren auch Laien und ganz Unbekannte mit dabei. Es war auch nicht so, dass ich Jannis beim Schreiben vor Augen hatte. Aber beim Casting war er derjenige, dem ich tatsächlich am meisten abgenommen habe, dass er aus diesem Milieu kommt.
Und wie geht es in Zukunft weiter? Welche Projekte sind geplant?
Letzten Sommer habe ich die Serie Deadlines für ZDFneo gedreht. Die Serie handelt von einer alten Jugendclique von vier sehr unterschiedlichen Frauen, die in ihren 30ern nach einem Jahrzehnt wieder zusammen kommen. Und soeben habe ich aus die Dreharbeiten zu einem Spielfilm für Netflix abgeschlossen – das wird wohl die schönst-traurigste Freundschaftsgeschichte, die ich zu erzählen hatte. Außerdem schreibe ich an meinem nächsten Autorenfilm. Wieder eine Vater-Kind-Geschichte, diesmal aber aus der Sicht des Kindes erzählt.
Vielen Dank für das Gespräch!
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