In der Presse lesen wir tagtäglich von Tragödien, großen wie auch kleinen. Unabhängig von der Dimension eines solchen Ereignisses können wir uns vielleicht als Außenstehende vorstellen, wie sich das Ereignis abgespielt haben mag, aber über die Langzeitfolgen haben wir nur selten einen Überblick, nicht zuletzt auch, weil diese in den Medien selten bis nie eine Rolle spielen. Gerade in den letzten Wochen, während die Inzidenzzahlen im freien Fall sich befinden und die Menschheit dabei ist, den Kampf gegen das Coronavirus in den Griff zu bekommen, werden wir kaum darüber hinwegkommen, uns um jene Menschen zu kümmern, die miterleben mussten, wie sie Verwandte und Freunde verloren haben, teils ohne sie noch ein letztes Mal zu sehen. Das Trauma, was jemand aus einer solchen Erfahrung des Verlustes oder der Ohnmacht mit sich trägt, ist weit mehr als nur ein gesundheitliches, sondern hinterlässt bleibende Schäden, für die es auch nach jahrelanger Therapie wohl nie eine wirkliche Heilung geben wird.
Über 20 Jahre ist es her, dass in der Tokioter U-Bahn von der Omu-Shinrikyo-Sekte ein Giftgasanschlag verübt wurde, in dessen Folge 13 Menschen ums Leben kamen und über 6000 weitere verletzt wurden. Während den Verantwortlichen der Prozess gemacht wurde, blieb vielen Menschen zum einen die körperliche Heilung und zum anderen ein Versuch des Zurückfindens in eine Normalität, was nicht selten zum Scheitern verurteilt war. So erging es auch Filmemacher Atsushi Sakahara, eines der Opfer des Anschlags vom März 1995, der bis heute nicht nur an den physischen Folgen der Ereignisse zu leiden hat, sondern auch an den psychologischen, für die er sich nicht zuletzt selbst eine Art Therapie verordnete. Neben seinem Podcast Before After Aum äußerte er sich auch in den Medien immer wieder über das Ereignis und bemüht sich, wie viele andere auch, an einer Aufarbeitung der Tragödie. Über mehrere Jahre arbeitete er außerdem an einem Dokumentarfilm über den Anschlag wie auch seine Folgen, wobei es ihm schließlich gelang, Kontakt zu der Sekte herzustellen, die noch heute in Japan zu finden ist. In Me and the Cult Leader, der auf der diesjährigen Nippon Connection gezeigt wird, trifft er deswegen auf Hiroshi Araki, langjähriges Mitglied der Sekte sowie zuständig für deren Pressearbeit, redet mit ihm über den Anschlag, doch auch über Arakis Weg zur Sekte, seine Biografie und die Abwendung von dessen Eltern.
Das Böse und dessen menschliches Gesicht
Fast zwei Stunden dauert die über mehrere Wochen gedrehte Dokumentation, in welcher Araki den Regisseur über die Wirkungsstätten der Sekte heute informiert und die beiden Männer dann anhand von Arakis Biografie zurückverfolgen, wie jemand überhaupt zu einer solchen Vereinigung findet. Durchgehend, zunächst aber nur recht vorsichtig und dann sehr fordernd, geht es um die Konfrontation, sowohl mit dem, was geschehen ist, mit dem Leiden, was die Sekte anderen verursacht hat, und schließlich über das mögliche Leiden, was man sich selbst zufügt. Das Gespräch verläuft, natürlich abhängig von Thema wie auch dem Umfeld, in dem sich die beiden befinden, bisweilen recht zäh, sodass vor allem auf Seite Arakis das Schweigen überwiegt, in welchem er sich scheinbar sammelt, seine Worte sorgsam abwägt und deren Wirkung überlegt. Sakahara wirkt teilweise wie ein Polizist, der einen Verdächtigen verhört, wobei er zwischen vorsichtiger Annäherung bis hin zu bohrendem Nachfragen wechselt, was die ohnehin schon nicht geringe Spannung zwischen den beiden Männern immer wieder deutlich spürbar macht.
Auch wenn das Verhältnis alles andere als ausgewogen zwischen dem Filmemacher und seinem Gesprächspartner ist, überwiegt vor allem die Spurensuche bei Me and the Cult Leader. Etwas plakativ als eine Suche nach der „Banalität des Bösen“ tituliert, wie es zu Anfang heißt, ist es doch ein Versuch zu verstehen, vor allem, wie jemand zu einer Sekte kommt, was ihn dazu bewogen hat vor allem, sich von der Welt, seinem früheren Selbst und seinen Eltern loszusagen. Immer wieder stoßen die beiden auf Widersprüche und Ungereimtheiten, wobei die Kamera jede Regung im Gesicht der beiden Männer einfängt. Es sind gerade solche Momente, die den Wert von Sakaharas Arbeit ausmachen, der keine Verurteilung sucht, sondern, wie schon gesagt, Antworten.
OT: „Aganai – Chikatetsu sarinjikento watashi“
Land: Japan
Jahr: 2020
Regie: Atsushi Sakahara
Musik: Soul Color
Kamera: Tatsuya Yamada, Masato Takashima
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