Für Aoyama (Tomoya Nakamura) ist es eng geworden, wird er doch von brutalen Kredithaien gejagt. Doch wie aus dem Nichts steht auf einmal Paul (So Yamanaka) vor ihm, der ihm ein besseres Leben in einer fremden Stadt verspricht. Denn dort sind gerade Außenseiter wie er willkommen, für die es keinen Platz in der Gesellschaft gibt. Allerdings hat dies seinen Preis. Im Gegenzug zu Sicherheit, Essen und einem eigenen Zimmer muss jeder seinen Namen aufgeben. Und es gibt noch einige andere Regeln, mit denen der Neuankömmling zunächst noch hadert. Eine davon: Wer erst einmal in der Stadt angekommen ist, darf diese nicht wieder aus freien Stücken verlassen …
Das Glück der Anonymität
Bislang war Shinji Araki im Bereich der Werbung oder auch mit dem Dreh von Musikvideos in Erscheinung getreten. Dass er aber größere Ambitionen hat, als nur schöne Bilder zu erzeugen, das beweist der Regisseur und Drehbuchautor mit seinem Langfilmdebüt The Town Of Headcounts. Genauer scheint er dieses hat nutzen wollen, um sich kritisch mit einer Welt des Kommerzes aufeinanderzusetzen, in der durch Konsum Individualität vorgegaukelt werden soll. Und das ist nur einer von vielen Aspekten, die der japanische Filmemacher in seinem Werk untergebracht hat, welches nicht nur inhaltlich kaum zu fassen ist. Auch die Einteilung in ein Genre stellt sich hier als eine schwierige Aufgabe heraus.
Dabei scheint der Einstieg noch relativ eindeutig zu sein. Wenn Aoyama zu Beginn jede Form von Individualität abgeben muss – darunter auch seinen Namen, den wir erst zum Schluss erfahren –, dafür aber rundum versorgt wird, dann erinnert das an klassische Dystopien wie Schöne neue Welt. Den Menschen wird suggeriert, dass sie durch den Verzicht auf persönlichen Besitz oder sonstige Formen der einzelnen Abgrenzung ihr Glück finden werden. Selbst Beziehungen sind untersagt, Kinder werden von Eltern getrennt, neue Kinder verboten. Stattdessen gibt es für jeden anonymen Sex und Essen, so viel man will. Denn wenn alle gleich sind, man sich durch nichts mehr unterscheidet, dann sind alle zufriedener. So die Theorie.
Eine Geschichte zwischen allen Genres
Die Idee ist nicht neu, wird hier aber unterhaltsam umgesetzt. Vor allem das erste Drittel, wenn unser Protagonist durch die zwar hell erleuchtete, aber zugleich unterkühlte Stadt streift und deren Regeln zu verstehen versucht, sind amüsant. The Town Of Headcounts schwankt an der Stelle zwischen Albernheit und Spott. Dass Araki dabei trotz allem die Verbindung zur Außenwelt herstellen will, zeigt sich durch die Einblendung diverser Texttafeln. Darauf: Statistiken etwa zu Obdachlosigkeit oder Abtreibungen. Denn wer in der Stadt landet, der hat meistens eine unschöne Vergangenheit. Mörder und Mörderinnen laufen zuhauf hier herum, wie wir an einer Stelle erfahren. Aber eben auch Menschen, die für das Leben in der mit Normen und Erwartungen operierenden Realität kein Platz war.
Auf diese Weise wandert The Town Of Headcounts zwischen Satire und Drama herum, dazu Elemente aus dem Mysterybereich und natürlich Science-Fiction. Denn in der Stadt ist alles technologisiert, selbst unsinnige Rituale. Erst im Laufe des zweiten Drittels wird Araki konkreter, worum es sich bei dieser Stadt handelt und was es mit dem kryptischen Titel auf sich hat. Auch das ist interessant, weil die eher universell-philosophische Ausrichtung auf einmal eine ganz andere Richtung annimmt. Es geht in dem Film eben nicht nur um die Überlegung, ob Individualität und die Suche nach dem persönlichen Glück letztendlich zum Unglück führen. Vielmehr nutzen die Leute hinter der Stadt diese, um sich ganz konkrete Vorteile zu verschaffen – was die Geschichte noch deutlich bitterer macht, als sie es ohnehin schon ist.
Ein interessanter Mix
Das klingt alles ein bisschen ziellos. Tatsächlich wirkt The Town Of Headcounts zuweilen mehr wie eine Ideensammlung als ein tatsächlich narratives Werk mit einem durchgängigen Konzept. Doch wer sich darauf einlassen kann, dass hier vieles wild zusammengemixt wurde, der kann mit dem Beitrag der Nippon Connection 2021 schon seinen Spaß haben. In gleichen Teilen nah an der Realität und völlig abgefahren ist die Geschichte um eine rätselhafte Stadt eine, über die man viel nachdenken kann und soll. Und selbst wenn man dabei vielleicht nicht zu einem eindeutigen Schluss kommt, zu groß ist die Themen- und Genrevielfalt: Die sonderbare Dystopie zeigt, dass man auch ohne großes Budget oder nennenswerte Vorerfahrungen interessante Geschichten erzählen kann.
OT: „Ninzu no machi“
Land: Japan
Jahr: 2020
Regie: Shinji Araki
Drehbuch: Shinji Araki
Musik: Takuma Watanabe
Kamera: Hidetoshi Shinomiya
Besetzung: Tomoya Nakamura, Shizuka Ishibashi, Eri Tachibana, So Yamanaka, Junpei Hashino
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