Als Pier Paolo Pasolini im November 1975 ermordet wurde, starb damit eine der seinerzeit bedeutendsten Stimmen Italien. Ob nun als Filmemacher, Schriftsteller oder Journalist, er scheute nie davor zurück, genauer hinzuschauen und Missstände oder unschöne Entwicklungen auch schon mal beim Namen zu nennen – womit er sich immer wieder Feinde machte. Doch während der Regisseur von Werken wie Accattone oder Decameron in seiner Heimat noch immer gefeiert ist, ist er bei uns eher in Vergessenheit geraten, ein Fall für cineastische Connaisseure. Einen Dokumentarfilm ihm zu Ehren zu drehen, ist daher etwas unerwartet, aber auch überfällig. Umso mehr, da einem Pasolini bis heute jede Menge zu sagen hat.
Eine Reise durch die Zeit
Dieser Auffassung ist zumindest Pepe Danquart (Auf der anderen Seite ist das Gras viel grüner), ein großer Bewunderer seines Kollegen. Anstatt diesem aber ein herkömmliches Porträt zu widmen, wie man das in diesem Bereich oft vorfindet, wandelt er auf andere Weise auf den Spuren des Italieners. Auf eine sehr wörtliche Weise: In Vor mir der Süden wiederholt Danquart eine Reise, die Pasolini rund sechzig Jahre zuvor unternommen hatte. Rund 3000 Kilometer umfasste diese damals, einmal die Küste Italiens entlang. Natürlich ging es dabei mehr als nur um ein bisschen Sightseeing. Vielmehr hielt er dabei schriftlich fest, später auch in Buchform, wie sich das Land gerade im Wandel befand. Ein Punkt dabei: die Geburtsstunde des Massentourismus.
Diese Beobachtungen kontrastiert Danquart mit seinen eigenen sechs Jahrzehnte später. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, wie sich das Land in dieser Zeit gewandelt hat. Pasolini zeigte sich dabei von einer visionären Seite, wenn er in seinen Texten Punkte wie eben den Tourismus, aber auch Immigration vorwegnahm. Damit einher geht zumindest implizit immer die Frage: Was genau ist Italien heute noch? Was ist seine Identität, seine Kultur? Und wo soll es in Zukunft hingehen? Vor mir der Süden bezieht sich dabei natürlich in erster Linie auf das konkrete Land. Doch dabei schwingen auch universellere Fragen mit. Denn vieles, was sich hier beobachten lässt, steht stellvertretend für eine Welt, die in ihrer Gesamtheit im Wandel ist.
Trauer um eine verlorene Heimat
Das bedeutet oft auch eine gewisse Wehmut. An manchen Stellen wird die offen angesprochen, von den Menschen, denen Danquart unterwegs begegnet. Das Gefühl der Fremdheit im eigenen Land. Anderes ergibt sich aus einer gewissen Text-Bild-Schere. Während der Fahrt zitiert Vor mir der Süden immer wieder die Sätze Pasolinis, in denen er beschreibt, was er vor sich sieht. Manchmal stimmt das mit den Bildern überein, welche die Kamera mehrere Jahrzehnte später festgehalten hat. Manchmal lassen sie sich nur schwer zusammenbringen und man spürt, wie viel sich verändert hat, wie viel verloren gegangen ist. Nicht alles mag früher besser gewesen sein – manches aber schon.
Wehmut kommt aber auch an einer Stelle auf, wenn eine Frau bedauert, es gäbe heute keine Künstler wie Pasolini mehr, die auch mal etwas Unbequemes sagen und aktuelle Entwicklungen hinterfragen. Überhaupt ist es auffällig, wie viele hier mit dem Multitalent noch etwas anfangen können. An manchen Stellen ist der Dokumentarfilm, der auf dem Fünf Seen Filmfestival 2020 Premiere feierte, vielleicht etwas zu referenziell. Alte Texte als eine Art Reiseführer zu nehmen, bedeutet letztendlich auch, sich von diesen abhängig zu machen und einzuschränken. Dennoch ist Vor mir der Süden ein interessantes Werk, welches gleichzeitig eine Zeitreise wie auch eine Momentaufnahme darstellt. Und selbst wer die nachdenklichen Passagen nichts zu nutzen weiß, verspürt zumindest das Bedürfnis, selbst einmal loszufahren und dabei zu sein, während alles ganz anders wird und doch gleich bleibt.
OT: „Vor mir der Süden“
Land: Deutschland
Jahr: 2020
Regie: Pepe Danquart
Drehbuch: Pepe Danquart
Musik: Amiina
Kamera: Thomas Eirich-Schneider
Was hat ihn zu der Reise veranlasst? Und wie hat er sich auf diese vorbereitet? Diese und weitere Fragen haben wir Regisseur Pepe Danquart in unserem Interview zu Vor mir der Süden gestellt.
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