Eichhörnchen, so sagt man, wissen manchmal nicht mehr, wo sie ihre Wintervorräte vergraben haben. Vielleicht sind die putzigen Tierchen dem Senior Curt (Günther Maria Halmer) deshalb so sympathisch. Er vergisst in seiner Luxusvilla mit Blick auf die kleinen Nüssesammler eben auch so manches. Zum Beispiel, wie seine Tochter heißt, die sich seit Jahren um den demenzkranken Vater kümmert. Inzwischen ist die kontrollsüchtige Almut (Anna Stieblich) mit den Nerven am Ende. Helfen soll Marija (Emilia Schüle), eine 24-Stunden-Betreuungskraft aus der Ukraine. Sie braucht unbedingt Geld, um ihren fünfjährigen Sohn durchzubringen, den sie bei der Oma in der Heimat zurücklassen muss. Zwar ist die 27-Jährige einen Tick zu unterwürfig, aber als sie merkt, dass Curt die hübsche Frau für seine verflossene Gattin in jungen Jahren hält, lässt sie sich auf das Spiel ein – mit ebenso unterhaltsamen wie anrührenden Überraschungen. Etwa eine halbe Million Frauen aus Osteuropa pflegen in Deutschland alte Menschen rund um die Uhr. Es ist eine rechtliche Grauzone, die manchen eine Heimunterbringung erspart. Und trotz der gezahlten Hungerlöhne pro Stunde ist das Geld in Osteuropa so viel wert, dass sich die Trennung der Frauen von ihren eigenen Familien lohnt. Welche Belastungen der 24-Stunden-Job sonst noch mit sich bringt, beleuchten die Regisseure Nadine Heinze und Marc Dietschreit in ihrem Spielfilmdebüt. Allerdings nicht in einem trockenen Sozialdrama, sondern höchst unterhaltsam und mit tiefgründigem Humor. Der Charme des Films rührt auch daher, dass er eine Zeitreise in das Luxusleben der Gutbetuchten in den 1970ern unternimmt, mit den alten Kostümen, dem edlen Geschirr, dem noblen Mercedes-Cabrio. Curt hat etwas gutzumachen gegenüber der vermeintlichen Ehefrau, die er im echten Leben gedemütigt und viel zu oft allein gelassen hat. Deshalb verwöhnt er in der amüsanten Verwechslungskomödie die zuvor rumgeschubste Pflegerin nach Strich und Faden. Der vornehme alte Herr legt ihr – wie man damals gern sagte – die Welt zu Füßen. Geschickt setzt das Debüt von Nadine Heinze und Marc Dietschreit auf falsche Fährten. Aus einem vermeintlichen Sozialdrama über sklavenartige Arbeitsbedingungen biegt es in eine unterhaltsame Tragikomödie mit märchenhaft skurrilen Zügen ab. Etwa wenn Curt seine „Frau“ zu einem Überraschungsausflug einlädt, sie ans Steuer bittet und zu einem noblen Gartenrestaurant dirigiert, wo er ihr dann zum Hochzeitstag gratuliert („Du glaubst wohl, das hätte ich auch vergessen“), vor den verdutzten Gästen an den Nebentischen eine Rede hält und dann das „Büffet“ für eröffnet erklärt. Gleichsam gelungen ist der Schachzug, die problematische Familiengeschichte, an der auch der schräge Sohn Philipp (Fabian Hinrichs) schwer zu tragen hat, nur scheibchenweise freizulegen – in ebenso rührenden wie amüsanten Kehrtwenden. Klug ausbalanciert, driftet das Drehbuch der Autorenfilmer weder in belehrendes Sozialdrama noch in Klamauk ab. Die Frage, ob man sich fremde Menschen kaufen sollte, bleibt im Hintergrund allerdings ebenso virulent wie die Problematik, wie weit man Demenzkranke manipulieren darf. Die nuancenreich agierende Emilia Schüle legt die Rolle der Marija dabei weder als klassisches Opfer noch als durchtriebene Aufsteigerin an. Zwischen verschmitzter Komplizenschaft, echter Fürsorge und brennendem Trennungsschmerz gegenüber ihrer eigenen Familie vertraut sie auf die Instinkte der Menschlichkeit. Dass das nicht rührselig gerät, ist eine zirkusreife Leistung auf dem Drahtseil. OT: „Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen“ Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.Rechtliche Grauzone
Falsche Fährten
Verschmitzte Komplizenschaft
Land: Deutschland
Jahr: 2019
Regie: Nadine Heinze, Marc Dietschreit
Drehbuch: Nadine Heinze, Marc Dietschreit
Musik: Daniel Sus, Can Erdogan
Kamera: Holly Fink
Darsteller: Emilia Schüle, Günther Maria Halmer, Fabian Hinrichs, Anna Stieblich
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