Als bei einem tragischen Zugunglück zahlreiche Menschen ums Leben kommen, gehört auch die Mutter von Mathilde (Andrea Heick Gadeberg) dazu. Für die Teenagerin bricht damit eine Welt zusammen. Nicht nur, dass ihr Vater Markus (Mads Mikkelsen), der bis zu dem Zwischenfall als Offizier im Krieg war, ihr keine Hilfe bei der Trauerarbeit ist. Mathilde leidet zudem schwer darunter, wie leicht der Tod zu verhindern gewesen wäre, denn erst eine Kette von Zufällen hat dazu geführt, dass sie ausgerechnet zu dem Zeitpunkt in der Bahn waren. Aber vielleicht war das Ganze auch kein Zufall. Dieser Überzeugung ist zumindest der arbeitslose Mathematiker Otto (Nikolaj Lie Kaas), der hinter dem Unglück einen gezielten Anschlag der Rockerbande Riders of Justice vermutet. Gemeinsam mit Markus, Lennart (Lars Brygmann) und dem Hacker Emmenthaler (Nicolas Bro) macht er sich daher dran, den wahren Schuldigen zu finden und für Gerechtigkeit zu sorgen …
Ein bewährtes Team
Wenn Anders Thomas Jensen einen Film dreht, dann hat das immer ein wenig von einer Familienzusammenführung. Seit seinem Langfilmdebüt als Regisseur bei Flickering Lights (2000) hat der dänische Filmemacher jedes Mal mit Mads Mikkelsen und Nikolaj Lie Kaas gedreht. Mit dem zweiten Spielfilm Dänische Delikatessen (2003) stieß auch Nicolas Bro hinzu, der seither zum festen Ensemble von Jensens Filmen gehört. Und noch etwas eint die Werke des Regisseurs und Drehbuchautors: Wenn er nicht gerade für andere Regisseure und Regisseurinnen schreibt, dann hat er eine kaum zu übersehende Vorliebe für schwarze Komödien, bevölkert von den skurrilsten Figuren.
Insofern bedeutet Helden der Wahrscheinlichkeit – Riders of Justice erst einmal business as usual. Die üblichen Verdächtigen sind wieder mit an Bord. Beim Film selbst handelt es sich wieder um eine schwarze Komödie – zumindest wird das Werk als solches verkauft. Und doch ist das nur die halbe Wahrheit. Wenn nicht gar ein Drittel der Wahrheit. Natürlich gibt es sie, die humorvollen Momente, die gerne mal absurd oder richtig gemein sein können. Verbunden wird dies aber mit einer Rachethematik, wie man sie auf Actionthrillern kennt und die sich dort großer Beliebtheit erfreuen. Mit dem Unterschied, dass diese Selbstjustiz hier nicht als Heldentat zelebriert wird, trotz des Titels, sondern mindestens hinterfragt wird. Helden gibt es bei dem dänischen Film weit und breit nicht zu sehen.
Überraschend bitter und abgründig
Überraschend ist dabei, wie bitter Helden der Wahrscheinlichkeit wird. Natürlich hatten bei Jensen die Figuren immer auch irgendwo eine Macke oder mussten sich mit irgendwelchen Abgründen arrangieren. Dieses Mal geht der Filmemacher aber noch einen deutlichen Schritt weiter, indem er Menschen in den Mittelpunkt stellt, die alle auf ihre Weise verkorkst sind. Das Augenmerk liegt dabei zunächst klar auf Markus und Otto: Der eine begegnet jeder Krise mit Gewalt, weil ihm die Empathie abhandengekommen ist, der andere sucht Trost in mathematischen Wahrscheinlichkeiten. Denn ein Unglück ist nur dann zu ertragen, wenn wir ihm einen höheren Sinn geben können, sei es durch Prozentzahlen oder den Glauben an eine göttliche Macht, die uns von der Zufälligkeit und Bedeutungslosigkeit erlöst.
Während auf der einen Seite die Jagd auf die Hintermänner des Zugunglücks zu grotesken Actionszenen führt, handelt Helden der Wahrscheinlichkeit daher oft viel mehr davon, wie sich die ganzen kaputten Figuren wieder zurück ins Leben kämpfen. Das kann mal wörtlich sein, wenn Markus nichts kennt als die Sprache der Gewalt. Otto versucht es mit Einfühlungsvermögen. Andere wissen nicht einmal, wo sie anfangen sollen. Das kann manchmal sehr lustig sein, wenn die Figuren sich mal wieder komplett bescheuert verhalten und man meint, in Dänemark wäre jede Form sozialer Kompetenz gesetzlich verboten. Doch dieses Lachen kann einem auch immer wieder im Hals steckenbleiben. Vor allem eine Szene geht einem durch ihre scheinbare Willkürlichkeit derart durch Mark und Bein, dass sie für besonders große Kontroversen beim Publikum sorgte. Während die einen sie als Höhepunkt des Films bezeichneten, lehnten andere sie komplett ab. Wirklich kalt ließ sie niemanden.
Die Suche nach dem Sinn
Insgesamt dürfte der Film das Publikum stärker spalten, als es die früheren Werke von Jensen getan haben. So wie zu Beginn eine Reihe bedeutungsloser Einzelszenen zusammen erst die Katastrophe ergeben, ist der Eröffnungsfilm vom International Film Festival Rotterdam 2021 eine Wundertüte, bei der man nie genau weiß, was als nächstes geschieht. Gerade wenn man meint, an deren Boden eine süße Belohnung zu finden, fliegt sie einem plötzlich um die Ohren. Das macht Spaß, kann gleichzeitig verstören. Und richtig viel schlauer wird man daraus auch nicht: Jensen gibt mit seinem wilden Genremix zwar jede Menge Stoff zum Nachdenken, von vererbter Empathielosigkeit über das Thema der Vorbestimmung und die Definition von Gerechtigkeit bis zur Frage, wie man Konflikte löst. Wahrscheinlich ist bei Helden der Wahrscheinlicht am Ende aber vor allem eines: Antworten darauf muss sich jeder selbst geben. Der Sinn des Lebens ist kein Gottesgeschenk, sondern mit harter Arbeit verbunden – und im Idealfall mit den dazu passenden Mitmenschen.
OT: „Retfærdighedens ryttere“
Land: Dänemark
Jahr: 2020
Regie: Anders Thomas Jensen
Drehbuch: Anders Thomas Jensen
Musik: Jeppe Kaas
Kamera: Kasper Tuxen
Besetzung: Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Andrea Heick Gadeberg, Lars Brygmann, Nicolas Bro, Gustav Lindh, Roland Møller, Albert Rudbeck Lindhardt
Was veranlasst sie, den Film zu drehen? Was bedeutet Gerechtigkeit? Und was hat Empathie mit Schauspielerei zu tun? Diese und weitere Fragen haben wir Regisseur Anders Thomas Jensen und Schauspieler Nikolaj Lie Kaas in unseren Interviews zu Helden der Wahrscheinlichkeit gestellt.
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