Rotfuchs Karottenkopf Poil de carotte
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Karottenkopf

Inhalt / Kritik

Rotfuchs Karottenkopf Poil de carotte
„Karottenkopf“ (alternativ: „Rotfuchs“) // Deutschland-Start: 5. Juni 2009 (DVD) // 12. Juli 2021 (Arte)

François Lepic (André Heuzé) ist der dritte Sohn eines Gutsbesitzers (Henry Krauss) und seiner Frau (Charlotte Barbier-Krauss). Die Ehe seiner Eltern ist schon lange mehr eine bloße Fassade, die sie in erster Linie aufrechterhalten, um im Dorf nicht das Gesicht zu verlieren. Doch im Hause selber kommt es immer wieder zu Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten, bei denen François, der wegen seiner struppigen Haare und seinen Sommersprossen nur „Karottenkopf“ genannt wird, immer der Leidtragende ist. Sein Bruder Félix (Fabien Haziza) ist ihm genauso wie seine Schwester keine Hilfe, macht er sich doch über ihn nur lustig und wird von seiner Mutter favorisiert, während François regelmäßig geschlagen wird oder die unliebsamen Arbeiten im Haushalt erledigen muss, für die sich seine Geschwister zu fein sind. Um ihren jüngsten Sohn zu bestrafen, sind der Mutter alle Mittel recht und während sein Vater ihn ignoriert, bleibt die Grausamkeit der Mutter ohne jede Konsequenz. Nur dem Dienstmädchen der Familie, Annette (Lydie Zarena), fällt auf, wie François leidet, doch ihre Stellung verbietet es ihr, gegen die Herrin des Hauses aufzubegehren.

Während sein Bruder im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, hat Félix eine Affäre mit einer wesentlich älteren Dame aus einer billigen Bar, die er kennenlernte, als er wieder einmal die Schule schwänzte. Um mir ihr nach Paris zu fliehen, stiehlt er seinem Vater Geld, im Wissen, die Tat würde ohnehin François in die Schuhe geschoben werden, was dann auch passiert. Dem helfen weder Beteuerungen noch Bitten, denn insbesondere seine Mutter ist von der Verdorbenheit ihres jüngsten Sohnes überzeugt. In seiner Trauer und Enttäuschung beschließt François schließlich, endgültig einen Schlussstrich zu ziehen unter all die Qualen, die er erdulden muss.

Der Wert der Familie

Auch wenn sein Name innerhalb von Cineasten mehr als Geheimtipp gilt, waren die Filme des Franzosen Julien Duvivier (Anna Karenina, Maigret: Um eines Mannes Kopf) für viele seiner Kollegen eine wahre Quelle der Inspiration, was erklärt, warum Regisseure wie Ingmar Bergman, Orson Welles oder Jean Renoir zu den Bewunderern Duviviers zählten. In vielen Genres bewies Duvivier sein Talent und wurde so, wie Autor Ben McCann in einem Artikel über das Schaffen des Filmemachers in Senses of Cinema schreibt, zu einem wahrhaft internationalen Regisseur, dessen Themen wie Menschenfeindlichkeit, Geschlechterbilder und Täuschung sein Werk zeitlos machen. Seine Adaption der Kurzgeschichte Karottenkopf von Jules Renard erzählt derweil eine Geschichte, die zum eine viele der Themen seines Werkes beinhaltet, aber darüber hinaus noch von einem Jungen und dessen Kampf um Liebe und Anerkennung.

Eigentlich sollte es leicht sein, über den „Wert der Familie“ zu schreiben, wie es der Dorflehrer von François und seinen Mitschülern verlangt, doch für den Jungen, der in den Zwischentiteln als „wild“ und „instinktiv“ beschrieben wird, ist dies gar nicht so einfach, denn eine Familie, wie sie die anderen Jungen seiner Klasse erleben, kennt er nicht. Die Definition, eine Familie sei eine Zusammenkunft von Menschen, die unter einem Dach wohnen, aber sich nicht ausstehen können, erregt naturgemäß das Gemüt seines Lehrers, der ihn mittels des Holzstocks sogleich zurechtweist, aber sich nicht weiter für den Grund dieser Sätze interessiert. Nicht nur auf das Dilemma seines jungen Helden macht Duvivier aufmerksam, sondern zugleich auf das Bild der Familie, wie es die Gesellschaft vermittelt und wie es die einzelnen Mitglieder aufrechterhalten wollen. Wichtiger ist die Frage, ob François mit seiner Idee von Familie so alleine ist in seiner Klasse oder seine Kameraden vielmehr wissen, dass sie solche Probleme nicht nach außen tragen.

Generell entwirft Duviviers das Bild einer Familie und damit auch einer Dorfgemeinde, die sich als Bewahrer dieser Werte versteht. Unabhängig, wie schlecht es einem Menschen emotional geht, werden gerade jene ausgesondert, die zu ehrlich sind oder offen mit ihrer Meinung sind, wie eben François, der zudem noch als Letztgeborener in der Rangfolge fast auf einer Stufe gesehen wird wie das Hausmädchen oder die Haustiere, die passenderweise seine einzigen Freunde sind. Mittels Überblendungen und Nahaufnahmen zeigt Duvivier, wie schnell sich Gerüchte im Dorf verbreiten, wie Meinungen und Vorurteile entstehen, die wiederum das Individuum immer weiter in die Isolation treiben.

„Niemand wird mich je so lieb haben.“

In der Hauptrolle als François spielt André Heuzé mit der für den Stummfilm typischen Theatralik einen Menschen, der an der Lieblosigkeit seiner Umwelt droht, zugrunde zugehen. Die bereits erwähnten Effekte unterstreichen den Fortgang der emotionalen Konsequenzen durch die Strenge der Mutter sowie die Abwesenheit des Vaters, wenn die Eltern ihm in albtraumhaften Visionen in der Nacht immer wieder erscheinen. Abermals beweist Duvivier ein genaues Auge für die Mechanismen und Folgen dieser Ausgrenzung, die sich im Spiel des jungen Darstellers deutlich zeigen.

Doch nicht nur er ist das Opfer jener Lieblosigkeit. Während  François’ Emotionalität nach außen hin gezeigt wird, haben die anderen Mitglieder seiner Familie sich mehr und mehr verschlossen, suchen nach jedem nur möglichen Anlass zur Flucht vor dem Zusammensein wie der Vater oder tragen bereits jetzt Züge jener emotionalen Grausamkeit, wie sie die Mutter zeigt. Während Duvivier in diesem Aspekt genau beobachtet, ist er scheinbar blind auf einem Auge, wenn es um die Darstellung der Ehepartner und ihrem Miteinander geht. Besonders zum Ende hin wird dies mehr und mehr zu einer sehr problematischen Schwarz-Weiß-Zeichnung, die sehr zuungunsten der Mutter ausfällt.

Credits

OT: „Poil de carotte“
AT: „Rotfuchs”
Land: Frankreich
Jahr: 1925
Regie: Julien Duvivier
Drehbuch: Julien Duvivier
Vorlage: Jules Renard
Musik: Gabriel Thibaudeau (2007)
Kamera: Ganzli Walter, André A. Dantan
Besetzung: André Heuzé, Henry Krauss, Charlotte Barbier-Krauss, Suzanne Talba, Fabien Haziza, Reneé Jean, Lydie Zarena, Yvette Langlais

Bilder

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"Karottenkopf" ist ein Stummfilm-Drama über die Familie, über Doppelmoral und emotionale Isolation. Auch wenn dem genauen Auge Julien Duviviers einige subtile Nuancen entgehen, erzählt er doch teils sehr berührend und hintersinnig über soziale Mechanismen der Ausgrenzung.
7
von 10