Lilith Stangenberg ist eine deutsche Film- und Theaterschauspielerin. Ein Engagement am Theater Basel folgte eines am Schauspiel Hannover und schließlich am Schauspielhaus Zürich, wo sie von 2009 bis 2012 Teil des Ensembles war. Danach war sie bis 2017 an der Volksbühne Berlin engagiert. Neben Rollen fürs Fernsehen, beispielsweise in Bella Block: Am Abgrund oder Polizeiruf 110: Stillschweigen ist sie vor allem durch ihre Mitarbeit an Filmen wie Die Lügen der Sieger (2014, Regie: Christoph Hochhäusler), Der Staat gegen Fritz Bauer (2015, Regie: Lars Kraume) und Wild (2016, Regie: Nicolette Krebitz) bekannt. Für ihre Rolle in Wild wurde sie unter anderem mit dem Preis der deutschen Filmkritik und dem Günther-Rohrbach-Filmpreis ausgezeichnet. 2020 spielte sie in Thomas Stubers Mystery-Horror-Serie Hausen mit sowie Orphea, der zweiten Kollaboration des Regisseurs Alexander Kluge mit seinem philippinischen Kollegen Khavn.
Anlässlich des Kinostarts von Orphea am 22. Juli 2021 reden wir mit Lilith Stangenberg über die Zusammenarbeit mit zwei Regisseuren, die Dreharbeiten in Deutschland und auf den Philippinen sowie die Wiederbelebung der Kunst nach einem Jahr im Lockdown.
Orphea ist ein sehr ungewöhnlicher und faszinierender Film. Was hat dich an der Figur der Orphea und an dem Projekt generell begeistert?
Ich finde, es ist interessant, sich in fremde Räume zu begeben, also mit Menschen zusammenzuarbeiten, die anders denken und die Welt anders betrachten als ich selbst. Die unmöglichsten Kombinationen führen zu den interessantesten oder surrealsten Schlüssen. In dem Film Orphea konnte ich mit zwei sehr unterschiedlichen Köpfen die sehr anders arbeiten kollaborieren. Der Film ist aus einem recht wilden Prozess heraus entstanden, das ist vielleicht auch das Schöne an dem Film, das er so ungestüm ist.
Inwiefern ist dies die im Film angesprochene „Wiederbelebung der Kunst“?
Ja vielleicht in gewisser Weise. In letzter Zeit glaube ich immer mehr an die Philosophie der Willkür in künstlerischen Prozessen. Die Momente, die unvorhergesehen oder ungeplant sind, sind manchmal viel schöner und wahrhaftiger als etwas, das man sich am Schreibtisch ausgedacht hat. Mir gefallen oft Sachen, die eher „hingerotzt“ aussehen, als wären sie aus einer Bewegung heraus entstanden. Dahinter kann ja auch ein großer Perfektionismus stehen, aber ich spreche von der Wirkung.
Darin liegt vielleicht eine Verwandtschaft zwischen Alexander Kluge und Khavn, beide scheinen in ihrer Kunst auf das Unberechenbare hinzuarbeiten, den „Unfall“ provozieren wollen, also das Moment, wo sich etwas der Kontrolle entzieht und aufhört repräsentativ zu sein.
Wie war es, mit zwei so unterschiedlichen Regisseuren zusammenzuarbeiten?
Khavns Segmente haben wir in Manila gedreht. Diese gigantische Stadt mit ihren Slums, dem Dreck und Elend, liegt da wie eine offene Wunde, wie ein riesiges Moloch. Ein Dichter hat Manila mal als Eingang zur Hölle beschrieben. Und so wie Orpheus sich auf den Weg in die Unterwelt macht, so hatte diese Stadt für mich als weiße privilegierte Europäerin auch etwas von einer Vorhölle, in die ich hineingerate. Die Kakerlaken, die Ratten, die Armut, die Straßenkinder, die Drogenabhängigen. So etwas kannte ich bis dahin nicht. Auf einmal ging es um meine Identität und nicht nur um die Figur der Orphea die ich spiele. Das war eine sehr sinnliche ergreifende Erfahrung.
Für die Dreharbeiten mit Alexander Kluge fand ich mich in einer Münchner Altbauwohnung vor einem Teleprompter ein, hinter mir ein improvisiert aussehender Greenscreen. Es gab kein Drehbuch und so wurde ich von den Teleprompter-Texten überrascht und las sie meistens prima Vista der Kamera vor.
Eine weitere extreme Erfahrung beim Drehen mit Khavn waren die Drehzeiten. Für den ersten Drehtag las ich auf dem Callsheet, dass es von sechs Uhr morgens bis am nächsten Tag um sechs Uhr morgens gehen würde. Zunächst dachte ich an einen Tippfehler, wurde dann aber eines Besseren belehrt, denn da es für philippinische Produktionen meist kein oder wenig Geld gibt, arbeitet Khavn immer unter solch extremen Bedingungen. So haben wir wirklich 24 Stunden am Tag gedreht. Diese langen, anstrengenden Drehtage haben mich in einen halluzinativen Zustand versetzt, wie ein endloses Tagträumen.
Was macht das Khavns Kinos für dich so magisch und faszinierend?
Khavn befasst sich in seiner Arbeit mit schwierigen dunklen Themen wie Hunger und Armut, Drogen, Gewalt und Terror. Themen, welche die Mainstream-Kultur lieber ausklammert. Das Spannende an ihm ist, dass er diese Themen nicht sozial-romantisch behandelt.
Er ist nicht aufklärerisch oder fürsprecherhaft. Er kreiert poetische, kraftvolle, eigene, unverkennbare Szenen, die diese Welt beschreiben.
Darüber hinaus ist die Schnelligkeit ein Thema bei Khavn. Er hält sich nie lange mit etwas auf, sondern will immer gleich weiter, fast unermüdlich oder unersättlich. Auch darin sind Kluge und Khavn einander verwandt.
Über die Arbeit am Film und auf der Bühne hast du einmal gesagt, dass man im Theater eine Rüstung anlege, während man vor der Kamera nackt sei. Was meinst du damit?
Ich kam ja von der Bühne zum Film und habe, bevor ich das erste Mal vor der Kamera stand, viele Jahre lang am Theater gespielt. Die Bühne habe ich immer als eine Art Boxring empfunden, auf dem man jeden Abend um sein Überleben kämpft. Man muss stets bewaffnet sein, sonst verliert man.
Die Kamera hingegen ist wie eine Lupe, die in dich hinein blickt. diese Intimität zuzulassen das ist gar nicht so leicht. Vor der Kamera geht es eher ums Enthüllen und Entblättern, auf einer seelisch-emotionalen Ebene. Eigentlich sind es zwei ganz unterschiedliche Disziplinen.
Du hast ja bereits gesagt, dass vieles in Orphea darauf abzielte, unperfekt zu sein. Wie war es da eigentlich für dich, den fertigen Film zu sehen?
Also bei Khavn gab es durchaus ein Drehbuch, welches aus den neun „Songs from hell“ bestand. Dementsprechend war es auch neun Seiten lang mit Texten, die wie ein Gedicht geschrieben waren. Die Sprache und die Fantasie in diesen Zeilen war so überbordend, dass ich mich mehr als einmal fragte, wie man dies überhaupt verfilmen könnte.
Da stand zum Beispiel, dass Ameisen Orphea zersetzen, in die Unterwelt transportieren und dort wieder zusammenfügen. Wie genau dies umgesetzt werden sollte, war mir, bis wir gedreht haben, ein Rätsel.
Es gibt ja zwei Filme: einmal Love is a Dog from Hell, ein reiner Khavn-Film, der die Geschichte von Orpheus und Eurydike erzählt, und dann gibt es Orphea, also die Kollaboration mit Kluge. Das Anschauen des Films ist gar nicht so leicht, weil scheinbar der ganze Film auf meinen Schultern liegt und das Unperfekte und Rohe zum Teil unerträglich ist für mich selbst.
Beispielsweise wurden die 9 Songs, vorher mit mir im Studio aufgenommen, sodass ich dachte, man würde diese Aufnahmen dann über die Szenen legen. Beim Dreh selbst habe ich dann sehr frei die Songs gesungen, ohne Begleitung und so wie es eben in der Aktion möglich war, weil ich davon ausging, dies würde man beim fertigen Film nicht hören. Wenn man aber jetzt Orphea sieht, hört man meinen Originalgesang vom Dreh und nicht die Aufnahme. Als ich dies zum ersten Mal gesehen und gehört habe, war ich entsetzt, doch mit der Zeit erkenne ich, dass in diesem Unvollkommenen auch viel Wahres steckt.
Was kannst du uns über neue Projekte erzählen, an denen du arbeitest?
Im Herbst drehe ich mit Regisseur Thomas Stuber Die stillen Trabanten und kurz danach in Marokko mit Robert Schwentke einen Film über Seneca mit John Malkovich in einer der Hauptrolle. Khavn und ich werden wahrscheinlich im November die Arbeiten zu einem weiteren Film beginnen, der den Titel Makamisa trägt.
Vielen Dank für das Gespräch!
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