In Anmaßung erzählen Stefan Kolbe und Chris Wright die Geschichte eines verurteilten Sexualmörders, den sie im Rahmen ausführlicher Gespräche kennenlernen wollen, stoßen dabei aber immer wieder an ihre Grenzen. So wollte er beispielsweise nicht vor der Kamera auftreten, weshalb er im Film von zwei Puppenspielerinnen ersetzt wurde. Außerdem ist er ein Mann voller Widersprüche, die nicht so leicht zu lösen sind. Zum Kinostart des Dokumentarfilms am 22. Juli 2021 haben wir uns mit den beiden Regisseuren über die Entwicklung der Idee, subjektive Wahrheiten und den Mörder in uns unterhalten.
Können Sie uns ein wenig zur Hintergrundgeschichte von Anmaßung verraten? Wie ist die Idee zu dem Film entstanden?
Stefan Kolbe: Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, da wir uns mit losen Ideen beschäftigt haben und uns ziemlich lange haben treiben lassen, bis wir wirklich zum Thema kamen. Am Anfang stand eine gewisse Unzufriedenheit mit unseren bisherigen Dokumentarfilmen. Wir waren dort eher beobachtend und sind den Leuten ziemlich nahe gekommen. Wir haben uns gefragt: Ist das gesund für diese Leute, wenn wir ihnen so nahe kommen und dann einfach wieder verschwinden aus ihrem Leben? Und ist das für uns gesund? Auf der einen Seite sind das natürlich professionelle Beziehungen. Gleichzeitig ist das aber mehr, weil da zum Teil auch Freundschaften entstehen.
Chris Wright: Auf der Suche nach Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen, sind wir auf Therapeuten gekommen. Auch die hören den ganzen Tag zu, zum Teil ziemlich heftige Geschichten. Die lernen ihre Patienten ganz nahe kennen und müssen im Anschluss wieder nach Hause und das alles sortieren. Danach haben wir viele Therapiegruppen besucht in den unterschiedlichsten Institutionen. Irgendwann haben wir einen Kongress besucht, bei dem es um Täterarbeit ging. Diese Arbeit mit Kriminellen war damals relativ neu und sehr umstritten. Als wir uns in der Umgebung umgeschaut haben nach Vergleichbarem, sind wir bei der Sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Brandenburg gelandet und haben dort unseren Protagonisten kennengelernt.
Und warum haben Sie dann ausgerechnet diesen Stefan ausgesucht? Es dürften dort ja mehrere in Frage gekommen sein.
Stefan Kolbe: Wir waren zunächst eigentlich an dem Therapeuten interessiert und wie er mit der Situation umgeht, bekamen dabei aber wieder mit, dass das nicht zu knacken ist. Interesse an dem Thema Kriminalität hatten wir aber schon und haben Prozesse in einem Kriminalgericht verfolgt. Das lief aber eigentlich völlig unabhängig von der Therapiegeschichte. Interessant für uns war dabei, wie ein und dieselbe Geschichte völlig unterschiedlich wirken kann, je nachdem wer sie erzählt. Am einen Tag war der Staatsanwalt an der Reihe und präsentierte seine Version. Am nächsten Tag folgte der forensische psychiatrische Gutachter und erzählt etwas ganz anderes. Das war als Zuschauer faszinierend, aber auch verwirrend, weil man die verschiedenen Versionen kaum zusammenbringt. Und da gab es dann Überschneidungen mit der Therapiegruppe, bei der es ebenfalls nicht die eine Wahrheit gibt. Stefan war der einzige Fall in der Gruppe, bei dem wir das Gefühl hatten, dass es Opferempathie gab. Das mag im Vergleich zu einem normalen Menschen nicht besonders viel sein. Innerhalb der Gruppe stach das aber ziemlich heraus, was wir interessant fanden.
Chris Wright: Was gut für einen Film ist, sind Kontrastpunkte. Man geht in ein Gefängnis und weiß, man hat es mit Mördern und Sexualstraftätern zu tun. Und dann hast du einen Sexualmörder vor dir, der total schüchtern ist, superhöflich, total harmlos aussieht. Fast kindlich. Das ist ein Riesenkontrast, der sofort bei uns etwas ausgelöst hat.
Stefan Kolbe: Das stimmt. Stefan hatte immer diese Ambivalenz. Da war diese Unschärfe, die es uns schwer machte zu erkennen, mit wem wir es da zu tun haben. Chris und ich haben auch ganz unterschiedlich auf ihn reagiert, was für uns dann wieder spannend war. Und diese Unsicherheit und das ungute Gefühl, eigentlich nichts zu wissen, zieht sich dann auch durch den ganzen Film. Wir wurden einfach nicht schlau aus ihm. Zumal er im Knast gelernt hat, was er sagen muss, um gut durchzukommen. Das meine ich jetzt gar nicht negativ: Ein gewisser Opportunismus ist etwas, das wir alle haben. Wir alle reagieren je nach Situation unterschiedlich und versuchen das Beste für uns herauszuholen.
Und wie sieht es jetzt mit dem zeitlichen Abstand auf? Sind Sie inzwischen schlau aus ihm geworden?
Stefan Kolbe: Nein, ich habe da bis heute kein wirkliches Gefühl. Er hat vor Kurzem wieder Kontakt zu uns gesucht nach einem Dreivierteljahr. Dabei ging es aber nicht um den Film. Den hat er bis heute nicht gesehen. Ihm ging es um die Schildkröte, die ihm gestorben ist und die er ersetzen will. Da ihm aber der Preis für eine Schildkröte zu hoch ist, meint er, sie im Engelsbecken in Berlin klauen zu müssen, und wollte dass wir ihm helfen. Meine Nachrichten zu dem Film ignoriert er hingegen.
Chris Wright: Wir haben ihm im letzten Herbst angeboten, ihm den Film zu zeigen, und haben einige Termine vorgeschlagen. Da hat er aber abgelehnt, weil er gerade an einem riesigen Puzzle arbeitete und das an den Wochenenden fertig machen wollte. Das hört sich jetzt alles schon etwas lustig an. Aber diese Ungewissheit im Umgang mit ihm ist ein tatsächliches Problem, da es um die Frage geht, ob er aus dem Gefängnis darf. Und dafür müssen sie einschätzen, ob er gefährlich sein könnte. Ob er es wieder tun könnte. Das ist eine super dringende Frage. Und unsere Frage war da: Können sie es überhaupt einschätzen? Können sie es wirklich wissen? Und die erschreckende Erkenntnis ist, dass wir es nie wissen können. Wir wollen zwar alle glauben, dass unser Rechtssystem objektiv ist. Aber diese Objektivität existiert nicht. Alle tappen sie im Dunkeln. Es geht nur darum: Wie können wir das bestmöglich absichern?
Stefan Kolbe: Am Ende läuft es auf eine Prozentrechnung hinaus. Diese Sozialtherapie soll beispielsweise die Rückfallwahrscheinlichkeit um einen bestimmten Prozentsatz verringern. Du wirst aber nie auf Null kommen, das geht einfach nicht. Du kannst nur abwägen: Gebe ich jemandem eine Chance oder nicht, in dem Wissen, dass es immer auch ein Risiko bedeutet? Da Stefan schon einmal einen Sexualmord begangen hat, soll er ein größeres Risiko haben, es wieder zu tun. Gleichzeitig glaube ich aber schon oder will es zumindest glauben, dass die 16 Jahre im Gefängnis etwas mit ihm gemacht haben. Außerdem ist es nun einmal so, dass da draußen viele potentielle Mörderherumlaufen, ohne jemals einen zu begehen. Das ist etwas, das du als Gesellschaft aushalten musst. Du kannst dich nicht bei jedem Menschen fragen, dem du begegnest, ob das ein Mörder sein könnte.
An einer Stelle in Anmaßung erzählen Sie von der Bewährungshelferin, die den Fall gar nicht erst annehmen wollte, nachdem sie die Geschichte erfahren hat. Waren Sie je an dem Punkt, an dem Sie das alles abbrechen wollten?
Chris Wright: Ständig! Wenn man sich vier, fünf Jahre lang so intensiv mit einem solchen Fall beschäftigt, dann geht das nicht spurlos an einem vorbei. Phasen, in denen du Ekel oder Widerwillen empfindest, gehören da einfach dazu. Auch weil es so schwer ist, mit unserem Protagonisten zusammenzuarbeiten. Er kann nicht gut erzählen, es war nahezu unmöglich, filmische Dinge mit ihm herzustellen. Auf diese Weise entstand auch die Puppenidee. Das half uns als Filmemachern, aber auch als Menschen, diesen ganzen Prozess durchzustehen.
Im Fall von Stefan war es so, dass er eine bittere Vorgeschichte hatte und auch durch die äußeren Umstände zum Mörder wurde. Da stellt sich die Frage: Kann jeder von uns ein Mörder sein?
Stefan Kolbe: Ich würde das bejahen.
Chris Wright: Wenn man sich so intensiv mit dem Thema beschäftigt, stellst du irgendwann fest: Diese Geschichte ist so banal. Natürlich ist Stefan in vielerlei Hinsicht extrem. Er hatte starke gesundheitliche Probleme und ist sozial ziemlich isoliert aufgewachsen. Dadurch hat er eine Verhaltensweise entwickelt, die ihn zu einem Außenseiter in unserer Gesellschaft machte. Die konkrete Situation, in der er zum Mörder wurde, war aber so banal, dass niemand wirklich von sich behaupten kann: Ich würde nie so handeln!
Stefan Kolbe: Mein Gehirn ist sehr auf diese Vorgeschichte angesprungen, die Sie angesprochen haben, und ich habe versucht, das mit seiner Tat zu verrechnen, vielleicht auch als eine Form der Entschuldigung. Aber da reagiert eben jeder anders. Und das fand ich spannend zu sehen – darum geht es auch im Film –, dass unsere Gehirne da so unterschiedlich ticken und entsprechend unterschiedlich die Geschichte beurteilen. So lange gibt es solche psychiatrischen Gutachten in der Rechtssprechung auch noch nicht. Die spielen erst seit den 1960ern eine Rolle Das ist etwas, das wir als Gesellschaft zugelassen haben. Die Gesetzgebung ist immer auch ein Spiegel davon, wie das Volk tickt. Wir wollen diese Art Geschichte, dass eines zum anderen führt. Und Gerichte wollen eine Geschichte, welche die Mehrheit der Gesellschaft trägt. Die eine Wahrheit gibt es nicht. Es gibt höchstens eine wahrscheinliche Geschichte.
Vielen Dank für das Gespräch!
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