Als das Paar abends noch einmal runter ins Dorf will, denkt sich die Cousine der Frau (Martina Gedeck) nicht viel dabei und legt sich stattdessen schlafen. Als sie am nächsten Morgen wieder zu sich kommt, stellt sie jedoch fest, dass die beiden nicht wieder zurückgekommen sind. Besorgt macht sie sich auf den Weg, um nach ihnen zu sehen, und stößt dabei auf eine unsichtbare Wand. Woher diese so plötzlich gekommen ist, weiß sie nicht, auch nicht ob es eine Möglichkeit gibt, irgendwie an dieser vorbeizukommen. Und so bleibt ihr erst einmal nichts anderes übrig, als zu der einsamen Jagdhütte in den Bergen zurückzukehren und zu warten. Als klar wird, dass sie auch weiterhin auf sich allein gestellt ist und sich selbst versorgen muss, beginnt sie, ihre Erfahrungen niederzuschreiben …
Die Tiefe hinter dem Nichts
Die Wand ist einer dieser Filme, die man grundsätzlich innerhalb eines Satzes zusammenfassen könnte, über die gleichzeitig aber auch ganze Bücher geschrieben werden könnten. Denn hier trifft eine minimale Handlung auf eine ausufernde Allegorie, die zu zahlreichen Interpretationen einlädt. Das Szenario könnte dabei einfacher nicht sein: Eine Frau ist in den Bergen auf einmal auf sich allein gestellt und muss lernen, sich selbst zu versorgen. Robin Wright erzählte kürzlich in Abseits des Lebens eine ähnliche Geschichte. In beiden Fällen bekommen wir es mit einer Frau im mittleren Alter zu tun, die sich ohne große Erfahrungen an der Landwirtschaft und dem Jagen versucht. Eine Art Survivalabenteuer also à la Robinson Crusoe, nur eben in einer Berglandschaft anstatt auf einer Insel.
Doch dieser rein physische Überlebensaspekt spielt ebenso wenig eine Rolle wie die titelgebende Wand, die mitten in der Nacht aus dem Nichts aufgetaucht zu sein scheint. Anfangs versucht die Protagonistin, noch irgendwie durch diese hindurchzukommen, um ihr altes Leben wieder erreichen zu können. Und natürlich darf auch kräftig spekuliert werden, was es mit dieser Wand auf sich hat, woher sie gekommen ist. Dabei interessiert den Film das überhaupt nicht. Wichtiger als das Hindernis ist hier, wie die Frau auf dieses reagiert und sich mit dem Leben in der Einsamkeit arrangiert. Tatsächlich gibt Die Wand bis zum Schluss keine Erklärung für die eigenartige Situation. Wer sich anhand der Beschreibung eine Art Mysterythriller erhofft, der ist komplett falsch.
Existenzielles Drama in einer überwältigenden Natur
Stattdessen handelt es sich bei der Adaption von Marlen Haushofers gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1963 um ein existenzielles Drama, das sich allein um die Protagonistin dreht. Wer sie genau ist, erfährt das Publikum dabei nie. Eine Vorgeschichte, wie sie im besagten Abseits des Lebens später rekonstruiert wird, gibt es nicht. Es wird ja nicht einmal ihr Name genannt – der ist allein den Tieren vorbehalten. Überhaupt ist es die Natur, die in Die Wand alles überragt. Immer wieder zeigt der Film prächtige Aufnahmen der Berge und Wiesen und Wälder. Das hat immer etwas Erhabenes, gar Überwältigendes an sich. Hier wird zu jeder Zeit spürbar, dass die Menschen nicht mehr als ein Detail sind, dessen Fehlen nicht weiter auffallen würde. Entweder sind sie da – oder eben nicht.
Mit dem Kitsch, den solche Naturbewunderungsfilme ganz gerne mal demonstrieren, hat Regisseur und Drehbuchautor Julian Pölsler deswegen auch wenig am Hut. Hier geht es weniger um ein Seufzen und ein Schmachten, sondern ein Suchen und Verlieren, ein Kämpfen und Verzweifeln. In Die Wand ist es weniger der rein physische Aspekt, den ein Leben in der Natur mit sich bringt, welcher die Protagonistin fordert. Vielmehr kämpft sie psychisch darum, noch da zu sein, jemand zu sein, während um sie herum alles Soziale verschwindet. Hund, Katze und Kuh werden zu einer Ersatzfamilie. Doch auch sie können das langsame Entgleiten nicht verhindern.
Langsam gestellte große Fragen
Langsam ist dabei ein Adjektiv, das die meisten nutzen werden, um den Film zu beschreiben. Mehr als 100 Minuten lang ist Die Wand. 100 Minuten, in den fast gar nichts geschieht und während der man überwiegend Landschaftsbilder sieht, Großaufnahmen von Gedeck, hinterlegt mit einem Voice-over. Das darf man dann natürlich langweilig finden, nichtssagend sogar, da auch der psychologische Aspekt nie ausformuliert wird. Doch wenn man sich darauf einlassen kann, dass der Film ganz nah an der Figur ist und trotzdem auf Distanz bleibt, auf wenige Aspekte reduziert und trotzdem ausschweifend, dann ist das Drama durchaus faszinierend. Er gibt auch – über den Mysteryfaktor hinaus – einiges an Stoff mit zum Nachdenken. Neben dem Verhältnis von Mensch und Natur und einer damit einhergehenden Entfremdung darf beispielsweise über das Thema Individualität gesprochen werden und inwiefern wir dafür andere Menschen brauchen. Denn je mehr Zeit die Namenlose von der Zivilisation entfernt verbringt, je mehr die Menschen aus ihrem Bewusstsein verschwinden, umso mehr scheint auch sie selbst zu verschwinden.
OT: „Die Wand“
Land: Österreich, Deutschland
Jahr: 2012
Regie: Julian Roman Pölsler
Drehbuch: Julian Roman Pölsler
Vorlage: Marlen Haushofer
Musik: Uwe Kirbach
Kamera: J.R.P. Altmann, Christian Berger
Besetzung: Martina Gedeck
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)