Erinnern Sie sich? An das Jahr 2019, als es nur ein einziges Thema gab, das Millionen Kinder und Jugendliche weltweit auf die Straße trieb? Dann kam Corona und vieles schien vergessen. Aber jetzt, nach den verheerenden Fluten im Ahrtal und Nordrhein-Westfalen, ist das Thema Erderwärmung wieder da. Trotzdem wirkt es in manchen Augenblicken wie eine Zeitreise, wenn der renommierte Kunstfotograf Jim Rakete in seinem ersten langen Kinodokumentarfilm die junge Klimabewegung porträtiert. Die schwungvoll-optimistische Machart des Films bildet einen spannungsvollen Kontrast zu den gerade erst über den Bildschirm geflimmerten Katastrophenbildern.
Gefühl für den richtigen Moment
Ihre Gesichter sind weiß geschminkt. Sie tragen alle dieselben Gewänder, lange Roben mit feierlichen Kapuzen. Ihr Marsch bedeutet Trauer: das Begräbnis der Natur. Aber sie tragen kein Schwarz, sondern Rot. Rot wie das Leben, Rot wie Wut. Die Truppe der gespenstisch gewandeten Totengräber bildet nur einen kleinen Teil eines riesigen Protestmarsches. Aber die Kamera fühlt sich wie magisch von ihnen angezogen. Es klingt eigentlich trivial, wenn man einen ins Regiefach gewechselten Fotokünstler für sein gutes Auge preist, für den richtigen Bildschnitt, für die Liebe zu starken Motiven. Aber man kommt bei diesem Film nicht darum herum. Auch wenn ein anderer die Kamera führt, nämlich Philip Koepsell, so zeichnet den Film doch genau das aus, wofür der 1951 in Berlin geborene Jim Rakete oft gerühmt wurde: das Gefühl für den richtigen Moment, für genau denjenigen Ausschnitt, in dem in kleinen Details das Ganze aufscheint: der Charakter einer Person, das Wesentliche inmitten des Zufalls.
Worin besteht also der Kern von „Fridays for Future“ und verwandten Aktionsgruppen? Ganz sicher in einer jugendlichen Unbedingtheit, vielleicht in einer gewissen Unschuld, ganz sicher aber in einer Kompromisslosigkeit des Denkens, die im Lauf des Älterwerdens verlorengeht. Now heißt der Film äußerst treffend, die komplette Botschaft in drei Buchstaben zusammenfassend. Jetzt ist die Zeit zu handeln, Klimakonferenzen gab es mehr als genug, alle Erkenntnisse liegen auf dem Tisch. Es fehlt nur die sofortige Umsetzung, die alle Protagonistinnen und Protagonisten des Films in einer bestechenden Klarheit einfordern. Jim Rakete und Drehbuchautorin Claudia Rinke, von der der Impuls ausging, haben die Bewegung 2019 ein Jahr begleitet, von den ersten Berliner Fridays for Future-Demonstrationen bis hin zu den weltweiten Massenaufläufen und dem berühmt-berüchtigten Auftritt von Greta vor den Vereinten Nationen.
Plusschlag einer Bewegung
Der Film folgt der Lebensfreude dieses Aufbruchs, lässt sich von der Welle tragen und schwimmt mittendrin – in Bildern, die die Kraft und die Hoffnung der Bewegung teilen und deren Pulsschlag im filmischen Rhythmus nachbilden. Zugleich nimmt sich Jim Rakete Zeit für einzelne Menschen, so wie er es in seinen Schwarz-Weiß-Porträts bekannter Schauspieler und anderer Persönlichkeiten getan hat. In Interviews befragt und bei ihren Projekten begleitet werden sechs junge Aktivistinnen und Aktivisten. Zum einen Vic Barrett, der in den USA mit anderen eine Klage gegen die Regierung wegen der Zerstörung der Lebensgrundlagen künftiger Generationen vorantreibt.
Zum zweiten Felix Finkbeiner, der mit neun Jahren die NGO „Plant for the Planet“ gegründet hat, eine Organisation zur Aufforstung, um möglichst viel des Treibhausgases Kohlendioxid in neuen Bäumen zu binden. Zum dritten Marcella Hansch, die als Gründerin von „Pacifc Garbage Screening“ gegen die Plastikvermüllung der Meere vorgeht. Zum vierten die britische Aktivistin Zion Lights von „Extinction Rebellion“, einer radikaleren Gruppe, die in der Tradition des zivilen Ungehorsams auch Gefängnisstrafen für ihre Aktionen in Kauf nimmt. Last but not least Nike Mahlhaus von „Ende Gelände“ und Luisa Neubauer, das deutsche Gesicht von „Fridays for Future“.
Von 1968 bis heute
Bei so viel Empathie und Sympathie für die Jugendbewegung könnte man eigentlich ein „!“ hinter Now vermuten. Aber es würde nicht passen, denn der Film verkommt trotz seiner wohlwollenden Unterstützung nicht zum Propagandawerkzeug. Er hält Distanz, zeigt Unterschiede in den Zielen und Strategien. Das hat auch damit zu tun, dass sich für den Fotografen und späten Filmemacher ein Kreis schließt. 1968 hatte er seine Karriere mit Bildern von den Studentenunruhen in Berlin begonnen. Jim Rakete weiß, dass Protestbewegungen einen langen Atem brauchen, dass sich nicht alles so entwickelt, wie auf der Höhe der Welle erhofft. Trotzdem drückt sein Film, ohne dass es ausgesprochen werden muss, den 50 Jahre Jüngeren die Daumen.
OT: „Now“
Land: Deutschland
Jahr: 2020
Regie: Jim Rakete
Drehbuch: Claudia Rinke
Musik: Nils Strunk
Kamera: Philip Koepsell
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