Im 11. Jahrhundert ist das japanische Königreich im tiefen Mittelalter, denn während die Landesherren und ihre Vasallen mit eisernem Gesetz über das Land wachen, leiden die Bauern unter Leibeigenschaft und Armut. Einzig der Gouverneur der Provinz Tango ist eine Ausnahme, behandelt er seine Untertanen doch mit Gnade und Fürsorge, bringt ihnen Lesen und Schreiben bei und ist ihnen ein moralisches Vorbild. Als er sich gegen die Gesetze des Landesherren weigert, wird er ins Exil getrieben, doch bevor er seine Stellung räumen kann und seinem sicheren Tod durch die Hand des Fürsten entgegengeht, gibt er seiner Frau Tamaki (Kinuyo Tanaka) und ihren beiden Kindern den Befehl, ihn zu verlassen und mit seinem Bruder zu leben. Seinem Sohn Zushio gibt er mit auf den Weg, nach seinem Vorbild zu leben und Menschen unter ihm mit Respekt und Gnade zu behandeln. Auf dem Weg durchs Land wird Tamaki jedoch von ihren Kindern getrennt, durch eine List von Sklavenhändlern, welche die Kinder an den grausamen Landvogt Sansho (Eitaro Shindo) verkaufen, wo sie zu harter Arbeit gezwungen werden und sich zudem neuen Namen zulegen müssen, damit ihre wahre Identität geheim bleibt.
Sechs Jahre später sind Zushio (Yoshiaki Hanayagi) und seine Schwester Anju (Kyoko Kagawa) erwachsen geworden und haben sich so gut es geht in dem tyrannischen Regime Sansho eingerichtet, der, wegen seiner prompten Steuerzahlungen und Härte nun den Schutz des Justizministers des Fürsten genießt. Während Zushio zu einem grausamen Vollstrecker geworden ist, der im Namen Sanshos Ungehorsam bestraft, versucht Anju ihren Bruder an die Gebote des Vaters zu erinnern und für sie gemeinsam einen Ausweg zu finden. Als sie durch Zufall das Klagelied einer jungen Frau hört, meint sie darin, einen Hinweis zu erkennen, dass ihre Mutter noch lebt. Jedoch muss sie für die Flucht bereit sein, ein großes Opfer zu bringen und ein letztes Mal versuchen, zu ihrem Bruder durchzudringen, der jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben hat.
Eine Welt ohne Gnade
Während die meisten Kinozuschauer und Filmliebhaber mit japanischem Kino in erster Linie den Namen Akira Kurosawa verbinden und vielleicht noch den von Yasujiro Ozu, stand ihnen in puncto künstlerischem Schaffen ihr Kollege Kenji Mizoguchi in nichts nach und wurde sogar von der europäischen Filmkritik der 1950er und 1960er Jahre als einer der gr0ßen Meister des Mediums an sich gefeiert. Als Grundlage für diese kühne Behauptung brachte man Werke wie Sansho Dayu – Ein Leben ohne Freiheit vor, den insgesamt einundachtzigsten Film Mizoguchis und wohl einer seiner besten. In dieser Verfilmung einer Geschichte von Autor Ogai Mori verhandelt Mizoguchi den Stellenwert von Gnade und Mitleid in der Welt und im Leben eines Menschen.
Beide Werte sind, wie uns bereits ein Text zu Beginn des Filmes informiert, in der Zeit, in welcher die Geschichte spielt, selten zu finden. Es ist eine düstere Epoche der Geschichte der Menschheit, welche den Wert der Menschlichkeit erst noch lernen musste, um sich als Zivilisation bezeichnen zu dürfen. Während Zushio von seinem Vater Lektionen über Gnade und Mitleid vermittelt bekommt, erscheinen diese Konzepte in der Realität nicht nur hinderlich, sondern lebensgefährlich zu sein, wie man schon nach wenigen Minuten sieht, als die Familie von ausbeuterischen Sklavenhändlern gefangengenommen, getrennt und schließlich verkauft wird. Diese Kette von Grausamkeit, Ungleichheit und Tyrannei geht nicht spurlos an den Menschen vorüber, wie man den dem von Yoshiaki Hanayagi gespielten Zushio sieht, der sich vielmehr dem brutalen Sansho anpasst und zu einem Instrument für dessen grausame Herrschaft wird. Indem sich Mizoguchi und Fuji Yahiro in ihrem Drehbuch in entscheidenden Punkten von der Vorlage entfernen, betonen sie die Zeitlosigkeit der Geschichte, welche auf die Frage hinausläuft, ob der Mensch fähig, nach Werten wie Mitleid und Gnade zu leben. Genauso wird die Frage gestellt, ob das Wissen um diese Werte eine Veränderung hin zu mehr Menschlichkeit überhaupt bewirken kann.
Ein Sklave des Systems
Ähnlich wie sein Kollege Akira Kurosawa in seinen Historienepen geht auch Mizoguchi von der Frage aus, inwiefern Grausamkeit und Tyrannei systemisch sind. Während dieser aber vor allem auf feudalen Herrschschaftssysteme und den Kodex der Samurai verwies, scheint Mizoguchi in Sansho Dayu einen anderen Weg zu gehen. Nicht nur in der Figur eines Zushio finden sich die Tendenzen zum Guten wie auch zum Schlechten, selbst in einem Charakter wie Sansho sind diese Kontraste zu finden, erscheint er doch gleichsam ein Symptom eines Systems zu sein, welches mit der gleichen Tyrannei und Brutalität agiert wie er. Mehr noch, wird dieses Verhalten affirmiert und belohnt, wie ihm ein Abgesandter des Fürsten versichert, vor allem, weil seine Treue und Härte dazu führt, dass durch die Steuereinnahmen neue Kriege geführt werden können. Unabhängig von der Stellung des Einzelnen, so erscheint es, sind alle Figuren Teil eines Systems, aus dem ein Ausbruch fast unmöglich scheint.
Darüber hinaus ist Sansho Dayu auch aus ästhetischer Sicht überzeugend. Die klaren Bildkompositionen, deren Rahmung sowie die Betonung auf Aspekte wie Eingeschlossensein und Sehnsucht geben der melodramatischen Handlung das nötige Gewicht, sowie den Charakteren eine gewisse Fallhöhe, wie man am Beispiel von Zushio gut sehen kann, der immer zwischen den väterlichen Lektionen und der systemkonformen Grausamkeit changiert.
OT: „Sansho Dayu“
Land: Japan
Jahr: 1954
Regie: Kenji Mizoguchi
Drehbuch: Fuji Yahiro, Yoshikata Hoda
Musik: Fumio Hayasaka, Tamekichi Mochizuki, Kinshichi Kodera
Kamera: Kazuo Miyagawa
Besetzung: Kinuyo Tanaka, Kyoko Kagawa, Yoshiaki Hanayagi, Eitaro Shindo, Akitake Kono
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