Skizze des Chestburster aus dem Nachlass von Dan O'Bannon (Copyright: Courtesy of the O’Bannon Estate)

Alexandre O. Philippe [Interview]

Regisseur Alexandre O. Philipp (Copyright: Exhibit A Pictures-Photographer Robert Muratore)

Wenn es darum geht, unheimliche Klassiker auseinanderzunehmen, dann führt kein Weg an Alexandre O. Philippe vorbei. In 78/52 (2017) analysierte er die berühmte Duschszene aus Psycho, Memory – Über die Entstehung von Alien (2019) nimmt sich das Science-Fiction-Monster aus Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt zur Brust, Leap of Faith (2020) ist William Friedkins Der Exorzist gewidmet. Nachdem die Filme auf einer Reihe von Festivals liefen, kommt Memory nun auch offiziell nach Deutschland. So ist der Dokumentarfilm seit September 2021 digital erhältlich, im November folgt die Ausgabe auf DVD und Blu-ray. Das haben wir zum Anlass genommen, um uns mit dem Schweizer Regisseur über seine Inspirationen, die Wirkung von Alien und die Arbeit an fremden Filmen zu unterhalten.

Du hast zuletzt vor allem Dokumentarfilme über andere Filme gemacht. Wie kommt es dazu? Als Dokumentarfilmer könntest du ja prinzipiell jedes Thema behandeln.

Was soll ich sagen, ich bin einfach ein großer Filmnerd. (lacht) Ich habe schon als Kind Filme geliebt. Seit ich mich zurückerinnern kann, sind Filme meine große Leidenschaft. Wenn du mir damals gesagt hättest, dass ich selbst einmal welche drehen würde, hätte ich dir nicht geglaubt. Ich habe auch ganz andere Sachen gemacht. Als Kind wollte ich zum Beispiel einmal Geologe werden. Später hatte ich mich entschieden, professioneller Golfer zu werden. Ich war sogar erfolgreich damit, glaub es oder nicht. Vom Golfen zum Filmemachen über Filme zu kommen, war natürlich ein großer Schritt. Aber ich bin froh, dass ich ihn gemacht habe.

Nun ist aber auch das Thema Film ein sehr weites. Selbst wenn du nur die großen Klassiker nimmst, kommst du locker auf hunderte oder tausende potenzielle Kandidaten. Wie suchst du dir die Filme aus, über die du etwas machst?

Irgendwie scheinen es oft mehr die Filme zu sein, die mich aussuchen anstatt umgekehrt. Da gibt es immer irgendwelche Umstände, die mich dazu bringen, mich damit zu beschäftigen. Wobei ich mich schon einfach gerne mit Filmen beschäftige, die mehr sind als nur Filme, sondern Teil des kulturellen Lexikons geworden sind, Teil des kulturellen Dialogs. Wenn du zum Beispiel Alien nimmst: Wenn du zu zehn verschiedenen Leuten sagen würdest, sie sollen einen Film darüber machen, würdest du zehn komplett unterschiedliche Filme am Ende bekommen. Ich will nicht einfach nur einen Film machen, der hinter die Kulissen schaut. Ich will da tiefer gehen und über die Bedeutung eines Films nachdenken. Darüber, was dieser Film in den Menschen auslöst. Das heißt aber nicht, dass die Bedeutung, die ich in einem Film sehe, für andere dieselbe ist. Was mich von Anfang an interessiert hat, war die poetische Verbindung zwischen der Chestburster-Szene und dem Triptychon von Francis Bacon, welches die Furien der griechischen Mythologie darstellt. Diese Verbindung von etwas Antikem mit einer fernen Zukunft war die Grundlage für Memory.

Du wirst den Film aber schon lange gekannt haben, bevor du ihn selbst filmisch bearbeitet hast. Was hat dich dazu gebracht, doch noch einen Dokumentarfilm zu dem Thema zu drehen?

Ich hatte vorher 78/52 gedreht, in dem ich mich mit der berühmten Duschszene in Psycho auseinandergesetzt habe, und dachte darüber nach, etwas ähnliches zu der Chestburster-Szene aus Alien zu machen. Das war schon ein recht fauler Ansatz von mir muss ich gestehen. Du solltest niemals einfach nur etwas, das mal funktioniert hat, noch woanders anwenden. Das führt zu nichts. Das musste ich mir irgendwann eingestehen, nachdem ich neun Monate lang Interviews geführt hatte und mich dabei nur um Kreis drehte. Ich dachte auch schon darüber nach, das Projekt einfach aufzugeben. Doch dann war da diese Geschichte, wie Ridley Scott das Triptychon von Bacon Giger gezeigt hat. Und ich fühlte, dass das so interessant ist, dass ich in der Hinsicht weitersuchen muss. Diese Verbindung der Xenomorphe mit den Göttinnen der Rache führte mich letztendlich zu Dan O’Bannon und der fernen Vergangenheit, wo ich die Origins of Alien fand.

Und wie lief der Rechercheprozess allgemein ab? Du hast gemeint, dass diese Szene am Anfang deiner Suche stand. Aber wie ging es von hier weiter? Hast du einfach mit allen möglichen Leuten gesprochen, die irgendwie im Zusammenhang standen, und geschaut, was dabei rauskommt?

Eine Zeit lang sollte der Film Dan O’Bannon’s Alien heißen, was recht deutlich macht, in welche Richtung ich damals gedacht habe. Als ich dann einmal diesen Zugang gefunden habe und wusste, welche Geschichte ich erzählen wollte, habe ich jedes Interview in diese Richtung ausgesucht und geführt. Wenn du mich fragst, worum es in Memory geht, dann um die perfekte symbiotische Verbindung dreier großartiger Künstler: Dan O’Bannon, H. R. Giger und Ridley Scott. Damit will ich nicht die Arbeit der anderen abwerten, die alle ihren wichtigen Beitrag geleistet haben. Aber ohne die Vision dieser drei wäre Alien so nicht möglich gewesen. Dabei haben sie etwas geschaffen, von dem viele gar nicht genau wussten, was das alles bedeutet, vermutlich nicht einmal die Studiobosse. Alien ist letztendlich ein männlicher Vergewaltigungsfilm im Weltraum. Und wenn du das den Bossen so gesagt hättest, niemand hätte dir das Geld gegeben. Aber das mag ich so sehr an dem Film: Er ist einerseits so direkt und offensichtlich und gleichzeitig wieder nicht. Viele haben damals eine starke Reaktion auf den Film gespürt, ohne zu verstehen, was da gerade mit ihnen geschieht. Er war damit seiner Zeit weit voraus.

Was glaubst du, wie würden denn die Leute auf ihn reagieren, wenn er heute das erste Mal gezeigt würde?

Das Konzept, dass der Spieß umgedreht wird und die Männer an der Reihe sind, das war in den letzten Jahren schon Inhalt des kulturellen Diskurses, im Rahmen der #MeToo-Debatten. Insofern ist dieser Dialog heute kein unbewusster, sondern einer, der sehr bewusst geführt wird. Insofern denke ich, dass Alien heute als Reaktion auf #MeToo gesehen würde. Und das ist eben das Bemerkenswerte: Der Film kam vor vierzig Jahren heraus und nahm damit etwas voraus, wofür es damals gar nicht die sprachlichen Mittel gab, um darüber zu reden. Deswegen sind damals die Männer reihenweise aus dem Kino gerannt und haben sich übergeben. Nicht die Frauen.

Alien
Eine der Szenen schlechthin aus „Alien“ (© 20th Century Fox)

Wie hast du denn damals reagiert, als du den Film und die Szene das erste Mal gesehen hast?

Nicht so wirklich. Ich habe ihn das erste Mal als Teenager gesehen, damals auf VHS. Und ich weiß noch, wie sehr ich den Film geliebt habe, alles daran. Aber ich habe keine direkte Erinnerung daran, wie ich den Film gesehen habe. Meine erste konkrete Erinnerung  betrifft vielmehr das Poster. Ich war damals oft bei einem Freund, der ein riesiges Poster von Alien in seinem Zimmer hatte. Und dieser Satz „In space no one can hear you scream“ löste in mir eine solche Furcht aus, dass ich es lange vor mir hergeschoben habe, mir den Film anzuschauen. Und das, obwohl ich damals Horrorfilme liebte! Aber das Poster war einfach zu furchterregend für mich. Deswegen habe ich den Film seinerzeit nicht im Kino gesehen, sondern erst auf VHS. Wahrscheinlich wäre die Wirkung im Kino größer gewesen.

Apropos Horrorfilme: Nachdem du Dokumentarfilme über Psycho und Alien gedreht hattest, folgte einer zu Der Exorzist. War es Zufall, dass es drei Horrorfilme in Folge waren?

Der Film zu Der Exorzist war überhaupt nicht geplant. Ich bin William Friedkin beim Sitges Filmfestival über den Weg gelaufen. Er liebte meinen Film 78/52 und lud mich deshalb ein paar Wochen später zum Lunch. Er gab mir die Möglichkeit, diesen Film zu machen, weswegen es mehr seine Idee war als meine. Und wer kann schon zu William Friedkin Nein sagen?

In deiner Arbeit hast du es dir angewöhnt, Filme sehr genau anzuschauen und zu analysieren. Kannst du da überhaupt noch einen Film wie ein regulärer Kinobesucher anschauen?

Vermutlich nicht ganz so wie ein regulärer Kinobesucher. Aber ich kann mir Filme nach wie vor anschauen und dabei einfach nur Spaß haben. Klar kann es vorkommen, dass mir irgendwann ein Detail auffällt und ich darüber stärker nachdenke, als es andere tun würden. Aber im Großen und Ganzen klappt das mit dem Anschauen noch. Wobei ich sagen muss: Wenn ich über einen Film etwas mache und mich wirklich intensiv damit auseinandersetze, brauche ich eine längere Pause und kann mir den solange nicht mehr ansehen. Vermutlich komme ich so langsam an dem Punkt an, an dem ich mir Psycho wieder anschauen könnte. Aber bei Alien und Der Exorzist wird es noch eine Weile dauern.

Und wie sieht es mit deiner eigenen Arbeit aus? Wie sehr beeinflusst dich die Arbeit mit den Filmen anderer bei deinen eigenen Filmen?

Es gibt als Filmemacher keine bessere Masterclass, als dir die Filme anderer anzuschauen und dich mit ihnen auseinanderzusetzen. Denn das zwingt dich dazu, noch einmal anders über das nachzudenken, was du tust. Mir ist es auch wichtig, dass meine Filme tatsächliche Filme sind und visuell arbeiten. Die Möglichkeiten eines Filmes nutzen. Einfach nur Interviews aufzunehmen, das ist mir dann doch zu wenig. Ich will lieber selbst eine Welt kreieren, innerhalb derer die Interviews Sinn ergeben. In Memory haben wir diese Interviews deshalb in totaler Dunkelheit aufgenommen, mit nur einer einzigen Lichtquelle, um das Gefühl zu erzeugen, in dieser Dokumentation gefangen zu sein.

Welchen Film hast du denn zuletzt gesehen, der dir gefallen hat?

The Green Knight von David Lowery. Ein phänomenaler Film, mutig und tiefsinnig. Als ich aus dem Kino raus bin, wollte ich nur noch zurück und ihn mir ein zweites Mal ansehen. Und es freut mich sehr, dass solche Filme heute noch gemacht werden und wir sie auf der großen Leinwand sehen können.

In den letzten Jahren wurde viel über die Situation der Kinos gesprochen und ob sie überhaupt eine Zukunft haben. Wie schätzt du die Entwicklung ein?

Ich habe natürlich keine Kristallkugel. Aber ich hoffe schon, dass die Menschen wieder in die Kinos gehen werden, sobald es wieder für alle sicher ist. Es wäre einfach ein zu großer Verlust, wenn es sie nicht mehr gäbe. Es gibt einfach Filme, die musst du auf der Leinwand sehen. Du kannst einen Fernseher oder einen Computerbildschirm damit nicht vergleichen. Das ist eine völlig andere Erfahrung. Deswegen freue ich mich so sehr auf Dune, wo schon am Trailer deutlich wird, dass das fürs Kino gemacht wurde.

Und worauf dürfen wir uns bei dir freuen? Woran arbeitest du jetzt?

Ich arbeite gerade an zwei Filmen gleichzeitig. Der eine ist eine Dekonstruktion des Westerns, insbesondere des Westerns von John Ford, der mit seinen Filmen eine Art alternative Vergangenheit geschaffen hat. Und der andere befasst sich mit der Beziehung zwischen David Lynch und Der Zauberer von Oz.

Vielen Dank für das Gespräch!



(Anzeige)