Von den Erwartungen, die man an sie als junge Frau Ende des 19. Jahrhunderts hat, hält Eugénie Cléry (Lou de Laâge) nicht viel. Anstatt sich den Regeln und Normen zu unterwerfen, wie sie sich für jemanden aus gutem Hause gehören, treibt sie sich lieber in den Cafés von Montmartre herum und liest Gedichte. Glücklich ist ihr Vater François (Cédric Khan) darüber nicht gerade. Doch als Eugénie auch noch behauptet, mit den Toten sprechen zu können, reicht es dem Familienoberhaupt. Und so steckt er sie in die psychiatrische Anstalt La Pitié Salpétrière, in der Frauen wie sie behandelt und ruhig gestellt werden sollen. Zunächst versucht Eugénie alles, um wieder herauszukommen, widersetzt sich den Anweisungen des Personals, muss jedoch schmerzhaft feststellen, dass sie keine Chance hat gegen das allmächtige Personal. Lediglich die leitende Krankenschwester Geneviève (Mélanie Laurent) versucht ihr in dieser schwierigen Zeit beizustehen …
Auf allen Bällen zu Hause
Bekannt ist Mélanie Laurent natürlich in erster Linie als Schauspielerin, war in großen internationalen Produktionen wie Inglourious Basterds und 6 Underground zu sehen. Seit einer ganzen Weile schon macht sich die Französin aber auch als Regisseurin einen Namen. Zwar gelangen ihr auf diese Weise bislang keine Blockbuster wie die obigen Titel. Aber es ist doch recht interessant, welche Stoffe sich die Filmemacherin für ihre Zweikarriere so aussucht. Wie unterschiedlich diese ausfallen. Für Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen über alternative Lösungsansätze bei globalen Problemen wie der Klimakrise erhielt sie einen César für den besten Dokumentarfilm. Zuletzt drehte sie den Thriller Galveston – Die Hölle ist ein Paradies über einen schwerkranken Auftragskiller, der sich auf einen letzten Rachefeldzug begibt.
Auch der Amazon Prime Video Film Die Tanzenden wurde zunächst als Thriller mit übernatürlichen Elementen verkauft. So ganz passt das jedoch nicht. Zwar geht es durchaus auch darum, wie eine eingesperrte Frau in einer psychiatrischen Anstalt malträtiert wird. Ihre Fähigkeit, mit den Toten zu reden, rückt den Film zudem in die Fantasy-Richtung. Manche werden vielleicht sogar auf Horrorszenen spekuliert haben. Doch von denen ist weit und breit keine Spur. Wenn Eugénie Kontakt zu Verstorbenen aufnimmt, dann ist die Vorstellung für die anderen zwar mit einem gehörigen Schrecken verbunden. Eine tatsächliche Gefahr besteht aber nicht. Vielmehr sind die Geister, die das Publikum auch nie zu sehen bekommt, wohlwollender Art, geben den Lebenden Hinweise oder sorgen sich anderweitig um die Menschen, die sie auf der Erde zurückgelassen haben.
Zwischen Irritation und Unterdrückung
Sehr viel wichtiger ist bei der Adaption von Victoria Mas’ gleichnamigen Roman aber der Umgang zwischen den Lebenden. Und der ist sehr viel weniger liebevoll. Die Beziehung innerhalb von Eugénies Familie ist von Irritationen geprägt, weil die junge Frau sich nicht unterwerfen mag. Erst einmal in der Anstalt eingewiesen, ist es ganz vorbei mit der persönlichen Selbstentfaltung. Die Tanzenden zeigt eine Parallelgesellschaft, in der einige wenige den Rest nach Belieben unterdrücken. Ein tatsächliches Interesse an den Patientinnen hat hier kaum jemand. Es geht vielmehr darum, begründet mit pseudowissenschaftlichem Wahnsinn, alle gefügig zu machen. Eine gute Frau widerspricht nicht. Sie ist ruhig und tut genau, was man ihr sagt. Mit Heilung hat das entsprechend wenig zu tun, vielmehr mit der bewussten Brechung des Individuums.
Das Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelte Drama, welches auf dem Toronto International Film Festival 2021 Weltpremiere hatte, hat dabei natürlich eine stark historische Komponente. Die barbarische „Behandlung“ von Geisteskrankheiten, wie sie im Film gezeigt wird, wird zumindest in unseren Breitengraden so nicht mehr praktiziert. Auch bei der Geschlechterfrage hat sich seither einiges getan. Nur eben nicht genug: Die Tanzenden demonstriert anhand einer lang zurückliegenden Geschichte, wie archaische Hierarchien aufrecht erhalten werden, ohne jegliches Schuldbewusstsein. Das findet hier teils auf derart empörende Weise statt, dass trotz einer überschaubaren Handlung viel Spannung entsteht. Das Geschehen verlagert sich aufs Psychologische, wo noch mehr Schaden angerichtet wird als im körperlichen Bereich. Die Frauen werden hier nicht von einem Wahnsinn befreit, sondern in diesen getrieben.
Kampf gegen Konformismus
Aber was ist Wahnsinn überhaupt? Dass Eugénie nicht wahnsinnig ist, das wird von Anfang an klar. Und auch bei diversen anderen Frauen, die in der Anstalt eingesperrt sind, schimmert durch, dass lediglich unbequeme Leute mundtot gemacht werden sollen. Das Historiendrama wird dadurch zu einer zeitlosen Anklage gegen Konformismus, in welcher Form auch immer. Ein tragischer Kampf gegen die Unterdrückung. Dieser Kampf findet in dem titelgebenden Le Bal des folles – auf Englisch The Mad Women’s Ball – seinen Höhepunkt, wenn eine groteske Zuschaustellung der Patientinnen zu einer rauschhaften Auflehnung wird, tragisch und triumphierend in einem. Auch wenn es natürlich viele Filme gegeben hat, die sich mit der Unterdrückung von Andersartigkeit oder auch der Unterdrückung von Frauen beschäftigt haben, das intensiv gespielte Die Tanzenden ist ein relevanter und sehenswerter Beitrag zu einer Debatte, die noch immer erschreckend aktuell ist.
OT: „Le Bal des folles“
IT: „The Mad Women’s Ball“
Land: Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Mélanie Laurent
Drehbuch: Mélanie Laurent, Christophe Deslandes
Vorlage: Victoria Mas
Kamera: Nicolas Karakatsanis
Besetzung: Lou de Laâge, Mélanie Laurent, Emmanuelle Bercot, Benjamin Voisin, Cédric Khan, Grégoire Bonnet
Was macht Die Tanzenden für ein heutiges Publikum relevant? Und würde sie gern einmal mit den Toten sprechen? Diese und weitere Fragen haben wie Regisseurin und Hauptdarstellerin Mélanie Laurent in unserem Interview zum Film gestellt.
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