In der bolivianischen Hauptstadt La Paz versammeln sich eine große Gruppe von Minenarbeitern aus dem Hinterland, die für bessere Arbeitsbedingungen, Löhne und, wie im Falle von Elder (Julio César Ticona) und seinen beiden Freunden, hoffen, dass man sie überhaupt wieder einstellt. Doch der Weg in die Stadt ist lange und anstrengend für die drei Männer, welche die Chance nutzen, um sogleich für sich und ihre Verwandten daheim einige Einkäufe zu erledigen sowie überhaupt erst einmal die Stadt zu erkunden. Allerdings klagt Elder bereits nach wenigen Stunden über Übelkeit und Schwindel, was er auf die Höhenluft schiebt, die er als Minenarbeiter nicht gewöhnt ist. Jedoch geht es ihm stündlich schlechter, sodass sich Mama Pancha (Francisca Arce de Aro), eine entfernte Verwandte seiner annimmt, und ihm wie auch seinen beiden Freunden beim Finden einer neuen Arbeit auf dem Markt behilflich ist. Die harte Arbeit, die schweren Kisten und die Monotonie der Abläufe bewirken kaum eine Besserung bei Elder, der jeden Tag schwächer wird, bis er schließlich bettlägerig wird.
Um Elder zu helfen, heuert Mama Pancha nicht etwa einen Arzt an, sondern einen Schamanen namens Max (Max Eduardo Bautista Uchasara), der aufgrund seiner apokalyptischen Visionen vom Untergang La Paz’ sowie der Welt, allgemein verspottet wird. In der Krankheit des jungen Mannes, der mittlerweile komatös geworden ist, sieht er die düsteren Visionen, die ihn in der Wildnis heimgesucht haben, bestätigt, und beginnt sogleich mit seiner Heilungszeremonie, deren Ausgang mehr bestimmen könnte als das Leben Elders.
Eine Sicht auf La Paz
Schon in seinem ersten Langfilm Viejo calavera widmete sich Regisseur Kiro Russo der Kultur, der Landschaft und den Menschen seiner bolivianischen Heimat, was ihm Auszeichnungen auf Festivals wie dem Buenos Aires International Festival of Independent Cinema, dem International Film Festival of India sowie dem Locarno International Film Festival einbrachte. In seinem neuen Werk El gran movimiento, welches auf den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig für den prestigeträchtigen Orrizonti-Preis nominiert ist, lies er sich von den verschiedenen Facetten der bolivianischen Hauptstadt La Paz inspirieren, welche in seinen Augen die „am wenigsten westliche“ Hauptstadt Südamerikas darstellt und deswegen kulturell wie auch städtebaulich über einen ganz eigenen Charakter verfügt.
So ist dann auch nicht weiter verwunderlich, wenn eben diese Stadt den Status eines weiteren Hauptcharakters einnimmt, berücksichtigt man, wie Russo diese inszeniert. Indem der Zuschauer die drei Minenarbeiter auf ihrer Tour durch die Stadt begleitet, welche diese naturgemäß das erste Mal in ihrer ganzen Pracht von einer Seilbahn aus sehen, erhält man den Blick einen Außenstehenden, eines Faszinierten wie auch eines Überforderten. Die Stadt präsentiert sich als undurchsichtiges Netz von Verbindungen, einer rigiden Unterscheidung zwischen Arm und Reich, sowie als ein Gebilde, dessen Geschichte und Ursprünge sich den Figuren an jeder Ecke präsentieren. Der Wechsel von Hell und Dunkel sowie die Kameraarbeit Pablo Paniaguas betonen, wie das Gesicht dieser Stadt stets wechselt, was die Mischung aus Semi-Dokumentation und düsterer Fantasie, welche die Handlung ausmacht, gut ergänzt.
Krankheit und Heilung
Symbolisch stehen die beiden Hauptfiguren, Max und Elder, für jene beiden Seiten, welche die Geschichte ausmachen, sowie für jenen plötzlichen Wechsel hinein in das Reich der Fantasie und des Aberglaubens. Sind es zunächst noch vor allem die materiellen Nöte, die das Denken von Elder und seiner Freunde ausmachen, und den Grund für ihre Fahrt nach La Paz definieren, ist es wenig später eine düstere Untergangsvision, die den Außenseiter Max in die Straßen der Stadt treibt, wo dieser sogleich von Marktfrauen wegen seines Aussehens und seiner „Spinnerei“ ausgelacht wird. Die Nöte der neuen Welt, die ungerechte Verteilung von Gütern und die Arbeitslosigkeit gehen einher mit jener Vision, die Max heimsucht, und welche eine noch viel umfassendere Heilung nötig macht.
Kiro Russos ist Film ist ein bildgewaltiges, oft sehr rätselhaftes Werk, dessen Wucht an die Filme eines Ciro Guerra (Der Schamane und die Schlange) oder Carlos Reygadas (Nuestro Tiempo, Post Tenebras Lux) erinnert. Letztlich gehört seine Aufmerksamkeit, und damit auch die des Zuschauers, jenen Unsichtbaren in der Stadt, wie er im Regiestatement zu El gran movimiento andeutet, welche viel zu oft ignoriert werden, bevor sie am Ende ganz verschwinden.
OT: „El gran movimiento“
Land: Bolivien, Schweiz, Katar, Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Kiro Russo
Drehbuch: Kiro Russo
Musik: Miguel Llanque, Pablo Paniagua, Felipe Gálvez
Kamera: Pablo Paniagua
Besetzung: Julio César Ticona, Max Eduardo Bautista Uchasara, Francisca Arce de Aro, Israel Hurtado, Gustavo Milán Ticona
Venedig 2021
Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg 2021
Around the World in 14 Films 2021
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