Dass der offen schwule 16-Jährige Jamie New (Max Harwood) nirgends so richtig dazu passt, das ist er schon gewohnt. Zwar unterstützt ihn seine Mutter Margaret (Sarah Lancashire) so gut sie kann. Auch auf seine beste Freundin Pritti Pasha (Lauren Patel) kann er sich immer verlassen. Und doch, richtig glücklich ist er nicht. So leidet er darunter, dass sein getrennt lebender Vater Wayne (Ralph Ineson) nichts mit ihm anzufangen weiß. Gleiches gilt für seine konservative Lehrerin Hedge (Sharon Horgan). Und auch der Schultyrann Dean Paxton (Samuel Bottomley) lässt ihn immer wieder seine Verachtung spüren. Also flüchtet sich Jamie immer wieder in Tagträume, in denen er als prächtige Drag Queen die Leute in den Bann zieht. Aber vielleicht muss das ja kein Traum bleiben: Zusammen mit seinem Mentor Hugo Battersby (Richard E. Grant), der früher ebenfalls als Drag Queen aufgetreten ist, bereitet er sich auf seinen großen Tag beim Abschlussball vor, zu dem er unbedingt mit Kleid und High Heels erscheinen will …
Es darf wieder gesungen werden
Zuletzt feierte das oft als altmodisch betrachtete Musicalgenre ein kleines Comeback im Film- und Fernsehbereich. Zumindest ist es auffällig, wie derzeit eine ganze Reihe von Major Players Werke präsentierten, mit denen sie an die Popularität der Bühnenfassungen anzuschließen hofften. Am bekanntesten war sicherlich die abgefilmte Version von Hamilton auf Disney+. Netflix schickte das mit zahlreichen Stars gespickte The Prom ins Rennen. Apple TV+ wählte mit der parodistischen Serie Schmigadoon! einen stärker humorbetonten Zugang. Im Kino wiederum lief In the Heights über ein lateinamerikanisches Viertel in New York City.
Auch Everybody’s Talking About Jamie hätte eigentlich in den Lichtspielhäusern laufen sollen. Stattdessen landete die Adaption des gleichnamigen Bühnenmusicals nun bei Amazon Prime Video, die Corona-Pandemie forderte ihr Opfer. Aber irgendwie passt das zu einem Film, der davon handelt, wie Umwege und Hindernisse genommen werden müssen. Wie erst einmal nichts so klappt, wie man es gern möchte. So erging es Jamie, dessen Geschichte im Mittelpunkt der TV-Dokumentation Jamie: Drag Queen at 16 stand. Diese wiederum lieferte die Inspiration für das Bühnen-Musical. In allen Fällen geht es darum, wie ein Jugendlicher sich gegen Vorurteile zur Wehr setzt, um seinen Traum als Drag Queen zu erfüllen.
Der Kampf der Außenseiter
Dass dies am Ende gelingt, daran besteht kein Zweifel. Everybody’s Talking About Jamie ist eines dieser typischen Wohlfühl-Musicals, die dem Publikum Mut machen sollen, gerade auch Menschen, die sich mit dem Protagonisten identifizieren können. Das müssen nicht zwangsweise versteckte Drag Queens sein. Vielmehr handelt der Film davon, sich treu zu sein und sich selbst zu verwirklichen, selbst wenn das mit viel Gegenwind verbunden ist. Geradezu bezeichnend ist, dass Jamies beste Freundin eine Kopftuch tragende Muslimin ist. Eine solche Figur mit einer schillernden Drag Queen zusammen zu tun, ist dabei schon ein etwas überraschender Kontrast. Aber es passt auch irgendwie, dass zwei Figuren, die unterschiedlicher nicht sein könnten, in der jeweils anderen Halt finden, sind sie doch beide auf ihre Weise zum Außenseitertum verdammt.
Interessant ist in der Hinsicht, dass die Verwandlung in eine Drag Queen für Jamie gleichermaßen Selbstverwirklichung wie Selbstflucht ist. So muss der Jugendliche nicht nur darum kämpfen, als sein Alter Ego auftreten zu dürfen. Er muss vor allem auch darum kämpfen, nicht von diesem abhängig zu sein. Muss losgelöst von dieser Persona und dem Glitzer bestehen können. Everybody’s Talking About Jamie ist an diesen Stellen nuancierter, als man erwarten durfte. An manchen Stellen zeigt Jamie zudem weniger positive Charaktereigenschaften, wenn er blind wird für andere. Ansonsten wird dann aber doch viel mit Klischees gearbeitet, ob es nun der homophobe Vater ist, sein schriller Mentor oder der fiese Schulbully. Da gab man sich bei der Figurenzeichnung keine sonderliche Mühe.
Mehr Kitsch als Entwicklung
Das gilt leider auch für die Geschichte als solche. Die Auflösung der diversen Konflikte geschieht zum Schluss mit ein bis zwei Sätzen, nachdem zuvor einen ganzen Film lang nichts ging. Das ist schon sehr plump umgesetzt. Gleiches gilt für die stärker kitschige Ausrichtung in der zweiten Hälfte, bei der ganz offensichtlich dem Inhalt selbst nicht vertraut wurde. Bei aller Sympathie für die positiven Aussagen des Films und die Absicht, dem Publikum Mut zu machen: Everybody’s Talking About Jamie rettet sich in irgendwelche kunterbunten Hollywood-Träume und wird damit dem eigenen Thema nicht gerecht. Da zudem die Lieder oft ein bisschen langweilig ist, bleibt hier ein Musical übrig, das zwar sympathisch ist, aber trotz der Glitzerfassade eher farblos ausfällt.
OT: „Everybody’s Talking About Jamie“
Land: UK, USA
Jahr: 2021
Regie: Jonathan Butterell
Drehbuch: Tom MacRae
Vorlage: Tom MacRae, Dan Gillespie Sells
Musik: Anne Dudley, Tom MacRae, Dan Gillespie Sells
Kamera: Christopher Ross
Besetzung: Max Harwood, Sarah Lancashire, Lauren Patel, Shobna Gulati, Ralph Ineson, Adeel Akhtar, Samuel Bottomley, Sharon Horgan, Richard E. Grant
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