Die Liste der Menschen, die unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten zu leiden hatten, ist bekanntlich lang. Und auch wenn später einiges dafür getan wurde, um an diese zu erinnern und sie in der einen oder anderen Form für das erlittene Unrecht zu entschädigen, zu viele sind in Vergessenheit geraten. Einer davon: Ernst Otto Karl Grassmé. Bei ihm wurde seinerzeit Schizophrenie diagnostiziert, weshalb er zwangssterilisiert wurde. Die psychische Störung, so die perfide Überzeugung seinerzeit, sollte nicht weitervererbt werden können. Zwar überlebt Grassmé im Gegensatz zu vielen anderen das Dritte Reich, war jedoch im Anschluss dazu verdammt, mit dem Folgen zu leben.
Die Worte eines Verstorbenen
Freistaat Mittelpunkt erzählt von diesem Mann und seinem Schicksal, tut dies jedoch auf eine recht ungewöhnliche Weise. Da Grassmé selbst vor vielen Jahren bereits gestorben ist, konnte Regisseur Kai Ehlers ihn nicht mehr selbst sprechen. In solchen Fällen kommen vertretungsweise meistens Menschen aus seinem Umfeld zu Wort. Aber auch das findet nicht statt, nicht zuletzt weil der Protagonist in späteren Jahren kein Umfeld in dem Sinne mehr hatte. Zurückgezogen lebte er auf einem Moor, fernab von einer Gesellschaft, die auch nach dem Ende des Nationalsozialismus keine Verwendung für ihn hatte. Nur seine Frau sorgte dafür, dass es ihm gut ging, zumindest so gut, wie es die Umstände erlaubten.
Wie aber lässt sich eine Geschichte erzählen, wenn keiner da ist, der sie erzählen kann? Freistaat Mittelpunkt greift an der Stelle auf Briefe zurück, die Grassmé geschrieben hat. Es sind persönliche Briefe, in denen er sein Schicksal schildert und zu erklären versucht, wie er mit den Folgen lebt. Gleichzeitig dokumentiert der Film, wie er vergeblich um eine Entschädigung im Nachkriegsdeutschland kämpfte. Denn während bei manchen Opfertypen früh geregelt wurde, was sie erwarten dürfen, fiel er durch jedes Raster. Schlimmer noch: Die Reaktionen der Behörden, welche ebenfalls im Film genannt werden, verteidigten die Praktiken zur Zwangssterilisierung als damals üblich, gemäß dem Wissensstand.
Interessante Bild-Ton-Schere
Nun sind Briefe natürlich kein besonders dankbares Medium für Filme. Wer will schon anderthalb Stunden zusehen, wie jemand solche vorliest? Also werden die gesprochen Texte als Voice-over über Aufnahmen von Landschaften oder auch landwirtschaftlicher Arbeit gelegt. Dass diese Bilder mit dem Inhalt der Briefe recht wenig zu tun haben, zu tun haben können, das ist klar. Man könnte sie auch komplett weglassen und stattdessen eine leere Leinwand zeigen, man hätte nicht weniger erfahren. Und doch hat dies Kombination durchaus ihren Reiz. Nach einer anfänglichen Irritation, während man nach einem Zusammenhang sucht, provoziert die experimentelle Bild-Ton-Schere ganz eigene Gedankengänge.
So wie Grassmé ein Fremdkörper in der Gesellschaft war, so drängen sich auch seine Geschichten in eine Natürlichkeit, die ihm verwehrt wurde. An manchen Stellen wird Freistaat Mittelpunkt auf diese Weise fast schon surreal, als könne das gar nicht sein, was da erzählt wird, dürfe nicht sein. Der Dokumentarfilm, der unter anderem bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2019 lief, verdeutlicht auf diese Weise, wie sehr dieser Mann ein Außenseiter war. Das ist sicherlich gewöhnungsbedürftig, zumal Ehlers auf erläuternde Kontexte verzichtet. Aber es fordert doch dazu auf, an die Vergessenen zu denken und Raum zu öffnen für die, denen niemand Platz machen wollte.
OT: „Freistaat Mittelpunkt“
Land: Deutschland
Jahr: 2019
Regie: Kai Ehlers
Drehbuch: Kai Ehlers
Musik: Chris Hirson
Kamera: Kai Ehlers
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