Über das Thema Schule lässt sich stundenlang diskutieren. Aber Regisseurin Maria Speth lädt zu etwas anderem ein: stundenlangem Zuschauen. Sie zeigt ihrem Publikum einen Lehrer, der nicht lamentiert über Missstände im deutschen Schulsystem. Sondern der die Sache in die Hand nimmt und einfach vieles anders macht: Debatte statt Basta, gleiche Augenhöhe statt Hierarchie, Spaß statt Stress. Maria Speths Dokumentation und der Unterricht von Herrn Bachmann machen Hoffnung: auf eine Schule jenseits von Konkurrenz- und Leistungsdruck. Bei der Sommerberlinale gab es dafür den erstmals eingerichteten Publikumspreis – und das trotz oder gerade wegen einer Länge von mehr als dreieinhalb Stunden.
Respekt und Solidarität
Elternsprechtag für die Klasse 6b an der Georg-Büchner-Gesamtschule in der nordhessischen Gemeinde Stadtallendorf. Stefis Vater ist mit seiner Tochter gekommen. Steif und eingeschüchtert drückt er sich auf seinem Stuhl herum, lässt seine Tochter ins Bulgarische übersetzen, was Herr Bachmann sagt. Es geht um die Frage, ob Stefi im nächsten Jahr auf den Realschul- oder gar auf den gymnasialen Zweig wechseln soll. Der Vater guckt skeptisch, zuckt die Achseln. Da wechselt Dieter Bachmann das Thema. Er fragt den Vater, wie es war, aus Bulgarien erst nach Italien zu emigrieren, wo die Familie 20 Jahre lebte, und dann vor kurzem weiter nach Deutschland zu ziehen. Wie fühlt sich das an, zweimal die Heimat zu verlassen? Der Vater taut auf, sagt sogar ein paar Worte auf Deutsch. Um ihm zu zeigen, was für eine großartige Tochter er hat, ermuntert Bachmann Stefi, etwas zu singen – auf Bulgarisch. Wie Stefi hat die Mehrzahl der Klasse einen Migrationshintergrund, 70 Prozent der Familien stammen nicht aus Deutschland.
Es ist eine berührende Szene, denn das Interesse des Lehrers ist nicht gespielt, kein Smalltalk oder bloße Höflichkeit. Dieter Bachmann will wirklich wissen, was seine Schüler und ihre Eltern umtreibt. Man könnte sagen, er begegnet ihnen von Mensch zu Mensch und auf Augenhöhe, wenn das nicht so abgedroschen klänge. Eigentlich lässt es sich schwer beschreiben, Bilder haben es da einfacher. Sagen lässt sich jedoch, dass das Wertesystem, das der Lehrer seinen Schützlingen vorlebt, sich in zwei Worten zusammenfassen lässt: Respekt und Solidarität.
Die Zeit, die jeder braucht
Maria Speth und ihr Kameramann Reinhold Vorschneider nehmen sich beeindruckend viel Zeit für die Gemeinschaft der Zwölf- bis 14-jährigen, die sie über ein Jahr lang begleiten. Alles Filmische – Kamera, Schnitt, Spannungsbogen – tritt hinter den kleinen Persönlichkeiten zurück beziehungsweise stellt sich in ihren Dienst. Es ist, als ob die Kamera versteckt wäre und der Zuschauer Mäuschen spielen dürfte. Der gemächliche Rhythmus erzeugt ein Gefühl des Mitlebens, des Dazugehörens. Der Film verzichtet auf Dramatik und Zuspitzung, er schwimmt mit den Höhen und Tiefen des Schulalltags quasi mit. Trotzdem wird er nicht langweilig. Denn die Filmemacher haben ein staunenswertes Gefühl für diejenigen Momente, in denen sich Charakteristisches verdichtet.
Etwa wenn vier Schülerinnen und Schüler den englischen Vokabeltest verhauen haben und Dieter Bachmann mit der Englischlehrerin verabredet, dass sie (und nur sie) den Test wiederholen dürfen. Vier der Englisch-Stars sollen sich ihre Mitschüler schnappen und mit ihnen Wörter pauken, danach gibt es eine zweite Chance. Jamie, einer der Guten, widerspricht. Sichtlich aufgebracht prangert er Ungerechtigkeit an. Leistung lohne sich wohl nicht mehr. Wie dieser Konflikt bearbeitet wird – darin spiegeln sich die schulpolitischen Debatten der letzten 50 Jahre. Trotzdem bleibt der Film ganz im Augenblick.
Dass das Konzept des reinen Zusehens – ohne Bewerten und Einordnen – aufgeht, hat etwas mit Musik zu tun, die Herr Bachmann neben Deutsch unterrichtet. Wenn es zu nervig oder langweilig ist, schnappt sich der Lehrer eine Gitarre, stellt eine Schülerin ans Mikro. Andere sitzen am Bass, am Schlagzeug, an weiteren Perkussionsinstrumenten oder singen einfach nur mit. Der Deep-Purple-Klassiker Smoke on the Water röhrt aus den Lautsprechern, oder Bello e Impossibile von Gianna Nannini, aber auch das Volkslied Hejo, spann den Wagen an. Eine Utopie von Gemeinschaft scheint auf, die Dieter Bachmann und seine Truppe sichtlich genießen. Antiautoritär ist das Ganze dennoch nicht, wie bereits die ersten Unterrichtsminuten klar machen. Dennoch hofft der Lehrer, die notwendige „Dressur“ auf zehn Prozent seines Unterrichts herunterzufahren.
OT: „Herr Bachmann und seine Klasse“
Land: Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Maria Speth
Drehbuch: Maria Speth, Reinhold Vorschneider
Musik: Niklas Kammertöns
Kamera: Reinhold Vorschneider
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Europäischer Filmpreis | 2021 | Bester Dokumentarfilm | Nominierung |
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