Das Programm hört sich so einfach wie revolutionär an: Gleiche Bildungschancen für alle, hieß es in den 1970er Jahren. Arbeiterkinder sollten Abitur machen, bekamen eine Förderung namens Bafög und der „zweite Bildungsweg“ wurde eingeführt. Aber wie fühlt es sich an, es geschafft zu haben und aus der Unterschicht ins Milieu der Künstler, Schriftsteller und Intellektuellen aufgestiegen zu sein? Darüber reflektiert der Autor und Filmemacher Sobo Swobodnik in einem Essayfilm, der auch und vor allem von der eigenen Biografie handelt. 1966 geboren und in kleinen Verhältnissen auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen, emanzipiert sich der gelernte Schauspieler von seiner Herkunft, zieht erst nach München, dann nach Berlin und lebt ein Leben, das seinen Eltern und den anderen Leuten im Heimatdorf als ein nie endendes Rätsel vorkommen muss. Die Befreiung hat aber eine Kehrseite: den Verrat an der eigenen Klasse, die Scham über die Herkunft und das Nichtankommen im neuen Milieu.
Der Horror der Herkunft
Es beginnt mit einer Heimkehr. Düstere Geräusche liegen auf der Tonspur, wenn sich die schwebende Kamera einen Weg durch die Hügel und Hochebenen der Schwäbischen Alb bahnt. Die unheimliche akustische Kulisse gemahnt an einen Horrorfilm. Tatsächlich sind die Gefühle von Schauspielerin Margarita Breitkreiz, die in die Rolle des Protagonisten, also des Regisseurs, schlüpft, keine friedlichen. Mit der Axt schlägt sie auf die Familienfotos ein, die an der Wand des Elternhauses hängen. Woher diese Wut? Aus der Kindheit und Jugend, als Sobo Swobodnik, nur eines wollte, nämlich weg aus den beengten Verhältnissen des 200-Seelen-Dorfes, andere Welten erkunden, wie sie Literatur, Theater und Film versprachen? Oder mischt sich auch der Ärger über das zurückgelassene Ich darunter, das der Rückkehrer überwinden wollte und das ihm nun unverändert entgegenglotzt wie eine eingefrorene Version seiner selbst? Der Film lässt das bewusst offen, schließlich basiert das Genre des Essays auf der gedanklichen Mitarbeit des Zuschauers.
Sicher ist nur: Sobo Swobodnik sollte als zweites Kind seiner Eltern eigentlich ein Mädchen werden (vielleicht daher die Verkörperung durch eine weibliche Figur). Statt von der Schulbank möglichst schnell in den Broterwerb zu wechseln, schafft es der Junge dank bester Noten auf die Realschule und merkt, dass die einfach-bäuerliche Welt, aus der er kommt, keineswegs alternativlos ist. Die Schauspielerin im sommerlich-luftigen Blümchenkleid beschreibt das Erweckungserlebnis so: Das bisherige Leben fühlte sich durch die neuen Erkenntnisse plötzlich falsch an. Swobodnik verlässt die schwäbische Welt, trainiert sich seine Mundart ab und verschweigt seinen neuen Freunden die Herkunft. Seine Scham über die Herkunft reflektiert die weiter bestehende Kluft. Dumm gelaufen, könnte man sagen. Warum also nicht zur ursprünglichen Klasse stehen und den im Filmtitel angekündigten Klassenkampf im marxistischen Sinne auffassen? Doch so einfach ist es nicht. Das Gefühl, zwei verschiedenen Welten anzugehören, lässt sich nicht allein durch proletarische Posen auflösen.
Wohltuend verspielt
Daher sind die Bilder, die der Film für ein wohl lebenslanges Dilemma findet, wohltuend vielschichtig. Margarita Breitkreiz, die den einen Strang der Reflexion ganz allein trägt, ist plötzlich nicht mehr nur eine Person, sondern drei verschiedene, die womöglich unterschiedliche Persönlichkeitsanteile reflektieren. Später spaltet sich die Schauspielerin in eine Doppelrolle. In unterschiedlicher Aufmachung mimt sie Interviewerin und Interviewten zugleich. Die eine stellt interessante Fragen, der andere sagt kluge Dinge, aber nicht im klassischen Setting, sondern dort, wo die Bilder Assoziationsräume eröffnen, etwa in einem Tretboot auf der Spree oder einem Saurierpark.
Das ist wortlastig, aber meist angenehm verspielt. Schade jedoch, dass der verbale Anteil weiter gesteigert wird durch den zweiten Strang der Reflexion. Hier erklingt die Stimme des Schauspielers Lars Rudolph zu Schwarz-Weiß-Bildern von Quallen, ästhetisch reizvoll gepaart mit anderen Tieren. Rudolph, der nie im Bild ist, sagt aus dem Off anspruchsvolle Sätze von Psychoanalytikern und Schriftstellern auf, zum Beispiel von Sigmund Freud oder Annie Ernaux. In der Kombination solcher Zitate mit den Experteninterviews des anderen „Erzähl“-Strangs wirkt der Film allerdings überladen. Zum Problem entwickelt sich zudem, dass sich der Regisseur nicht auf die Kraft seiner Ich-Erzählung verlässt, die von sich aus das Zeug zu universellen Anknüpfungspunkten hat. Stattdessen greift er zu Theoriegebäuden, die nicht das Individuelle in den Mittelpunkt stellen, sondern die soziale Struktur, durch die es geformt wird. Diesen Denkansätzen zu folgen, wird wohl nur dem gelingen, der sowieso mit der Materie vertraut ist.
OT: „Klassenkampf“
Land: Deutschland
Jahr 2020
Regie: Sobo Swobodnik
Drehbuch: Sobo Swobodnik
Musik: Elias Gottstein
Kamera: Elias Gottstein, Sobo Swobodnik
Besetzung: Margarita Breitkreiz, Lars Rudolph
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